Lange suchte die heute 72jährige Tochter des beim Todesmarsch 1945 im nordböhmischen Oberkreibitz umgekommenen Franzosen René Gachy das Grab ihres Vaters. Nun schien sie nach einigen Umwegen endlich fündig geworden zu sein. Mit Hilfe von Gilbert Dupau, eines französischen Mithäftlings ihres Vaters, und mit Hilfe der Gruppe Grenzlos sollte sie, zusammen mit drei Freundinnen, am 3. September 2005 vom Chřibskaer Bürgermeister empfangen und zum Gedenkstein für die Todesmarschopfer, wo auch ihr Vater beigesetzt ist, begleitet werden. Brigitte Bamberg, eine der vier Frauen, berichtet uns über den Besuch in Chřibská (Kreibitz).



Horní Chřibská, 3. September 2005
Jeanine Peyroutet findet das Grab ihres Vaters
Bericht von Brigitte Bamberg (Strasbourg, Frankreich)


Jeanine Peyroutet war mit einer Reisegruppe aus der Stadt Anglet (in Frankreich, Partnerstadt der Stadt Ansbach in Bayern) in Ansbach zu Besuch. Sie wohnte bei meiner Tante, die sich angeboten hat, ihr bei ihrer Reise nach Chřibská zu unterstützen. Wir sind schließlich zu viert gefahren, Madame Péroutet, Monika Dostal, eine Bekannte meiner Tante, unsere Chauffeurin G. und ich.

Wie Sie wahrscheinlich wissen, waren wir am Samstag den 3. September gegen 14 Uhr mit Herrn Josef Navrátil, dem Oberbürgermeister von
Chřibská, am Gasthof Radnice verabredet, wo wir rechtzeitig eingetroffen sind. Herr Navrátil hat uns dort mit dem Bürgermeister und einem Herrn aus Prag, Herrn Rezak, der als Dolmetscher vorgesehen war, begrüßt und bekannt gemacht.

Auf dem Friedhof Wir sind von dort zum Friedhof in Ober-Chřibská gefahren. Der Oberbürgermeister hat Jeanine Peyroutet innerhalb des Friedhofs geführt, auch an die Stelle wo heute die Gedenktafel liegt und wo ihr Vater und seine Kameraden begraben liegen. Das war sehr bewegend für sie und auch für uns. Sie hatte uns noch einmal am Abend zuvor die Geschichte ihres Vaters erzählt. Die Zeit war leider zu kurz und die Aufregung wahrscheinlich zu groß, als dass sie uns die Hintergründe der Festnahme ihres Vaters genauer erläutern konnte.
Jeanine Peyroutet (3.v.r.) mit ihren Freundinnen, dem Bürgermeister und zwei seiner Mitarbeiter an der Gedenktafel auf dem Friedhof von Chřibská. Foto: Gerda

Nach einer Denunziation wurde er in Südfrankreich mit anderen seiner Kameraden festgenommen und in Bayonne inhaftiert. Später kam er nach Bordeaux, und wurde schließlich nach Deutschland in das KZ Sachsenhausen deportiert, wo er in einem Außenkommando eingesetzt wurde. Sein Kommando wurde dann, wenn ich es richtig verstanden habe, nach Schwarzheide geschickt, von wo er am Todesmarsch nach Theresienstadt teilnehmen musste. Mehr Details könnten wir von Frau Peyroutet bekommen.

Auf dem Weg, der ihn durch die verschiedenen Orte von Schwarzheide geführt hat, gab es nichts oder kaum zu essen, aus diesem Grund entfernte sich René Gachy von der Kolonne, um Löwenzahnblätter auszurupfen, aber ein deutscher SS-Mann kam gestürmt und schlug ihm auf den Nacken, so das er hinfiel. Seine Kameraden halfen ihm auf und versuchten ihn auf dem Weg zu stützen, bis sie selbst nicht mehr die Kraft dazu hatten. Dann wurde er auf den Totenkarren gelegt, der am Ende der Kolonne von weiteren Gefangenen gezogen wurde. Wie auch René Gachy kam ein anderer Gefangener, Jean Barbier, aus ähnlichen Gründen ums Leben, weil er an einer Stelle etwas trinken wollte und sich vom Weg entfernte.

Nach den Erzählungen kam die Kolonne am 23. April in
Chřibská an und übernachtete dort in einer Glashütte (die uns nachher Herr Navrátil auch zeigte). In dieser Nacht soll es ein Vorfall gegeben haben (Mundraub von Brot), wegen dem am nächsten Tag die Deutschen eine Zahl Gefangenen aussuchten, die am Friedhof (hinter der Mauer, das heißt hinter der heutigen Tafel) eine Grube ausgraben sollten. Diese Gefangenen wurden selbst exekutiert und in dieser Grube begraben.

Gilbert Dupau (2005) Später (nach Kriegsende) wurden die Überreste von der Stelle hinter der Mauer in den Friedhof verlegt und dort eine große Gedenktafel angebracht. Herr Navrátil erklärte alles Frau Peyroutet vor der Gedenktafel. Da der Name ihres Vaters falsch orthografiert worden war, war der Wunsch von Frau Peyroutet gewesen, eine Gedenktafel für ihren Vater anzubringen. Sie hatte eine anfertigen lassen und sie aus Anglet im Auto mitgebracht. Der Oberbürgermeister schlug vor, sie an der Mauer unter oder an der Seite der jetzigen Gedenktafel zu befestigen, und sagte ihr zu, sie könne ihm vertrauen, er würde dies nach ihren Wünschen veranlassen und ihr später ein Bild schicken.

Diese Tafel ließ René Gachys Tochter anfertigen. Sie wird neben neben der bisherigen Gedenktafel angebracht.

Gilbert Dupau (82), einst Mithäftling von René Gachy, half den Besuch in Chřibská vorzubereiten


Frau Peyroutet bedankte sich lange bei Herrn Navrátil und den anderen Herren. Ich glaube sie konnte es kaum fassen, dass sie diesen Ort, den sie so lange gesucht hatte, endlich gefunden hatte. Der Ort, der ihrer Mutter damals als Todesort mitgeteilt wurde, war falsch angegeben worden und deswegen auf der Landkarte unauffindbar. Sie zweifelte, glaube ich, bis zuletzt, ob sie es bis nach
Chřibská schaffen würde... Endlich war der Moment da, an dem sie ihren Vater fand.

Wir gedachten ihres Vaters und es gab ein Moment des Schweigens.

Danach sind wir gegangen. Wir haben uns die Stelle hinter der Mauer ansehen wollen, wo auch eine kleine Tafel angebracht war. Frau Peyroutet lief im hohen Gras und ihr Blick lag auf den saftigen Löwenzahnblumen, die überall wuchsen. Das war das Paradoxe, diese Überfülle an Löwenzahn und das Schicksal eines Einzelnen, das dadurch sein Ende fand.

Nach dem Friedhof zeigte uns Herr Navrátil den Weg zur Glashütte, wo die Gefangenen in der Nacht (vom 23. zum 24. April 1945) vor der Exekution am Friedhof übernachtet hatten. Es muss eine der ältesten Glasbetriebe in der Gegend sein. Anschließend wurden wir vom Oberbürgermeister in einer Pension zu einem Kaffee eingeladen, wo wir uns noch unterhalten haben. Frau Peyroutet bekam eine Videokassette über den Ort geschenkt und wir alle kleine Broschüren und einige Postkarten.

Wir waren sehr froh, Frau Peyroutet auf diesem Weg zu begleiten, und das, was ihr anfangs unmöglich erschien, möglich zu machen. Ich denke, dass sie dadurch Vertrauen gefasst hat und ihr die Erinnerung an die Vergangenheit etwas erleichtert.

Ich will der Klarheit wegen noch hinzufügen, dass Frau Peyroutet über Herrn Dupau die Einzelheiten über den Tod ihres Vaters erfahren hatte (unter anderem die Tatsache, dass er sich von der Kolonne entfernt haben soll, um einen Löwenzahn zu pflücken und dabei erschlagen wurde) und dass der Oberbürgermeister von
Chřibská wiederum ihr die Umstände in Chřibská erklären konnte (der Vorfall in der Glashütte, die Exekution am Friedhof, usw).



Literatur

Die Gruppe Grenzlos verweist auf folgende Literatur, in der auch die Ereignisse in
Horní Chřibská (Oberkreibitz) und der Tod von René Gachy zur Sprache kommen:
 
Konferenzbericht "Dem Schweigen entrissen". Sebnitz 1980, S. 34ff. Jan Welch, Mitglied von Dr. Heinz Senenkos Forschungsgruppe (AG Junge Historiker) legt hier erstmals seine Forschungsresultate über die Geschehnisse in Oberkreibitz 1945 vor. René Gachy wird hier noch als Paul Gauly geführt.

Laßt die Glut nicht verlöschen. Sebnitz 1984, S. 7 (chronologische Angaben) und S. 15 (Zitate aus Gilbert Dupaus Bericht über die Ereignisse in
Chřibská, wo Dupau auch auf das Schicksal von Jean Barbier und Paul Gachy verweist.)

Stránský, Pavel: Als Boten der Opfer. Prag 2002, S. 48. Auch Pavel Stránský erwähnt, wie begeistert einige Franzosen "vom Löwenzahnsalat als eine Delikatesse sprachen".

Kral, Friedrich: Hungermarsch. Prag 2005, S. 27 und 64f. Kral erwähnt den Tod seines Freundes Karl Teichner in Kreibitz und die Erschießung von 4 Mithäftlingen, die Brot gestohlen haben sollen.

in französischer Sprache:
Dupau, Gilbert: Evacuation du camp de concentration du Schwarzheide. Marche de la mort - 24 avril - 8 mai 1945. Mont de Marsan o.J. (2001), S. 7 und 12f