14. Dezember 2012 + Erkundungen
von Josef Doškář in Nový Bor
Neue Recherchen über die nichtjüdischen Häftlinge der Schwarzheider Todeskolonne
Vor einem Jahr fand Josef Doškář in einer Chronik des Tschechischen Verbands der Freiheitskämpfer den Hinweis, dass sich im nordböhmischen Skalice das Grab eines Franzosen befinde, der in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 bei einem Todesmarsch ums Leben gekommen sei. Josef D. wohnt nur wenige Kilometer von Skalice entfernt in Nový Bor, also suchte er auf dem Skalicer Friedhof das Grab des Franzosen und machte es ausfindig. Eugène Vanielle hieß der hier bestattete Fremde. Als dann Josef D. sich in Nový Bor (Haida) und im benachbarten Skalice (Langenau) nach Menschen umsah, die ihm etwas über Vanielles Tod und dem damit im Zusammenhang stehenden Todesmarsch von KZ-Häftlingen, der zum Kriegsende 1945 beide Orte passierte, erzählen konnten, musste er ernüchtert feststellen, dass es in seinem Umfeld niemanden gab, der etwas wusste.
Bevor wir weiter berichten, müssen wir den tatsächlichen Sachstand vorausschicken. Die AG Junge Historiker (später "Spurensucher" / Gruppe Grenzlos) hatte bereits vor Jahrzehnten Nachforschungen und Interviews zum besagten Todesmarsch geführt. Dadurch war bereits 1980 bekannt geworden, dass nach der Auflösung des KZ-Außenlagers Schwarzheide (bei Dresden) im April 1945 die noch gehfähigen 600 Häftlinge, Juden und "Arische", auf einen Todesmarsch in Richtung Böhmen getrieben wurden. Unter "arischen" Häftlingen verstand die SS alle nichtjüdischen Häftlinge, also die aus politischen und religiösen Gründen Verfolgten sowie die nach strafrechtlichen Vergehen Inhaftierten ("Kriminelle"). In Varnsdorf (Warnsdorf; damals zum "Sudetengau" gehörig) wurde der Häftlingszug in eine "arische" und eine "nichtarische" Marschkolonne aufgeteilt. Die erstere verschlug es nach Skalice (Langenau); 120 bis 220 von ihnen erlebten dort die Befreiung. Die Juden hingegen gelangten am 8. Mai 1945 in Theresienstadt in die Freiheit. Von ihnen kamen 240 bis 260 lebend an.
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Probleme der Recherche heute
In der Tat ist heute über das Schicksal der meisten Häftlinge
dieses Evakuierungsmarschs wenig oder nichts bekannt. Zu viele sind in
der Todeskolonne umgekommen oder ermordet worden. Und viele der Überlebenden
sind nach dem Krieg nach Kanada, USA, Israel, Lateinamerika und anderen Länder
ausgewandert oder in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Für die
"Spurensucher" war in den 70er / Anfang der 80er Jahre der
Kontakt zu den in ihrer Heimat, der ČSR / ČSSR, verbliebenen leichter
herzustellen als zu den emigrierten und in andere Länder heimgekehrten. 16
der ehemaligen Häftlinge konnten die jungen Forscherinnen und Forscher in der ersten Hälfte der 80er Jahre
ausfindig machen und interviewen. Später kamen weitere dazu. In den 90er Jahren erreichten die
Zeitzeugen dann ihr 7. oder 8. Lebensjahrzehnt. Ihre Zahl nahm altersbedingt ab.
So ist in den letzten fünf Jahren unser Kontakt zu den französischen "Schwarzheidern"
abgeebbt. Ob einer von ihnen noch am Leben ist, wissen wir nicht. Das macht es
für Josef D. schwierig, näheres über Schicksal des in Skalice bestatteten
Häftlings zu erfahren. Sollte einer der Franzosen noch am Leben sein, so Josef
D., dann wolle er ihn in Frankreich aufsuchen.
Foto: Erste Begegnung im September 2012 in Prag. Links im Bild Josef Doškář (69 J.) mit seiner Enkelin Sofie. 2.v.r. René Senenko (der Autor des Beitrags) mit Milan Plzák, einem tschechischen Freund. Foto Harald Schadek |
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Ideenreiche Formen des Gedächtnisses - Josef Doškář und Antonín Nešpor machen das Leid der von den Nazis verfolgten Tschech(inn)en anschaulich
Josef Doškář schreibt über
sich: "Als ich 13 Monate alt war und mich mein Vater in einem Kinderwagen
fuhr, kam die Gestapo, um ihn, meinen Vater, zu verhaften. Ich war also die
letzte Person, die ihn lebend gesehen hat (wenngleich ich mich heute nicht mehr
an den Vater erinnern kann). Vater wurde in der Kleinen Festung in Theresienstadt
inhaftiert. Er hatte immer gehofft, die Befreiung zu erleben, kehrte aber in einem Zinksarg
nach Hause zurück. Er starb am 15. Mai 1945 an Typhus."
Heute organisiert
Josef D., Mitglied der ČsOL (Organisation der čsl. Legionäre)
und des ČSBS (Tschechischer Verband der Freiheitskämpfer), ideenreich
Gedenkveranstaltungen für tschechische Opfer des deutschen Faschismus. Als er
von Antonín Nešpor, einem Freund, erfährt, dass 2011 ein Gedächtnismarsch auf den Spuren
von fünf tschechischen Frauen, die bei der Evakuierung des KZ Ravensbrück
geflohen waren, geplant ist, und dass es sich um Frauen aus Lidice handelte,
organisiert er in Nový Bor die Pflanzung einer "Lidice-Linde" sowie eine Radtour nach Lidice. Der Name Lidice, des von den Nazis aus Rache am Tod
des Reichsprotektors Heydrich getilgten tschechischen Ortes, hat in Tschechien
immer noch hohe Symbolkraft. Damals, 1942, sind die Männer des Ortes
massakriert, die Frauen in KZs gesteckt und die Kinder zur Eindeutschung
verschleppt worden. Fünf der deportierten Lidicer Frauen hatten im April 1945 die Gelegenheit
eines Bombenangriffs genutzt, um bei ihrer Evakuierung aus dem Frauen-KZ
Ravensbrück zu fliehen. Sie schlugen sich in mehr als drei Wochen nach ihrer böhmischen
Heimat durch. Welcher Wagemut. Die Heimkehr gelingt ihnen. Am 22. Mai 1945 stoßen sie in Bor auf
Soldaten eines tschechischen Regiments. Was Lidice bedeutete, wusste schon
damals die ganze Welt. Und so weinten die Soldaten, als die Frauen ihnen von
ihrem Schicksal erzählten, und als
sie erfuhren, dass die fünf aus Lidice stammen. Eine dieser Frauen hieß Anna
Kohličková
(verh.
Nešporová). Ihr Sohn Antonín Nešpor hegte noch zu
Lebzeiten der Mutter den Plan, den Fluchtweg der fünf Frauen zu rekonstruieren und
abzulaufen. Gemeinsam mit Josef Doškář und einigen Frauen hat er diese
Marschstrecke dann im Mai 2011 zu Fuß absolviert. Im Mai 2012 wiederholte er
diesen ungewöhnlichen
Gedächtnismarsch.
Neue Vorhaben
Im September 2012 trafen wir in Prag erstmals mit Josef D. persönlich zusammen. Er legte uns sein Material über die
Todesmarsch-relevanten Fakten aus seiner Heimat Nový Bor vor und wies auf
Probleme bei den Nachforschungen hin. Josef D. möchte den
Verlauf und die Opfer der "arischen" Marschkolonne vom Zeitpunkt der
Aufteilung in zwei Marschsäulen bis zur Befreiung der Häftlinge dokumentieren und hierfür
Gedenktafeln errichten. Die Gruppe Grenzlos wird diese Bemühungen, die noch am
Beginn stehen, weiter verfolgen und - soweit möglich - unterstützen.
Text / Redaktion: René Senenko