Bildbericht (28.5.2006)
Gestohlene
Tafel erneuert
Ein Dutzend Menschen fanden sich an einem windig-sonnigen Frühlingssonntag (28. Mai 2006) an der Hauptstraße in Hertigswalde ein, um an der Mauer, die das Gebäude der alten Schule vom Gehweg trennt, die erneuerte Tafel zur Erinnerung an den Todesmarschs 1945 einzuweihen. René Senenko von der "Gruppe Grenzlos", Herr Mai, stellv. Bürgermeister von Sebnitz, und Hans Gaertner aus Prag (80), einer der Überlebenden des Todesmarschs, erinnerten in kurzen Ansprachen an den Anlass, bevor der Gast aus Prag zusammen mit Ute Näser (Gruppe Grenzlos) die Tafel enthüllten. Die Edelstahlplatte trägt, wie bereits ihre Vorgängerin, folgenden Text*:
Am 21. April 1945 verweilte hier die
Todeskolonne
aus dem KZ Schwarzheide für Minuten,
denn kranke und hungrige Häftlinge waren zusammengebrochen.
Sie wurden blutig geschlagen und auf den
Todeskarren geworfen.
Versuchen wir, uns die Situation von damals,
Frühjahr 1945, zu vergegenwärtigen, dieses Mal aus der Sicht von Anwohnern,
die den vorbeiziehenden Elendstross zu Gesicht bekamen. Dazu liegen mehrere
Zeugenaussagen vor, die 1980 die damalige AG Junge Historiker eingeholt hat. Eva
Hirsch gab zu Protokoll: "Ich wohnte damals in Hertigswalde Nr. 21,
unterhalb der Schule. Noch sehr genau erinnere ich mich dieses Zuges. Wir Kinder
standen gerade vor der Haustür, da schleppte sich der Zug an uns vorüber. Mir
kam er endlos vor. Ein schreckliches Bild des Grauens, zerschundene,
ausgehungerte, gequälte Männer. Das werde ich niemals vergessen können. Eine
Faschistenfrau, die damals bei uns wohnte, sagte noch, aus denen müsste man
Seife machen." (Quelle: Konferenzbericht "Dem Schweigen
entrissen", Sebnitz 1980, S. 25)
Und Siegfried Zeckel, 1945 wohl ebenfalls noch jugendlich, erinnerte sich:
"Ich wohnte in Oberhertigswalde. Mit Gleichaltrigen waren wir gerade auf
der Straße, als der Zug ankam. Nur mit Mühe wälzte er sich voran. Zwei große
Tafelwagen mit schweren, eisenbeschlagenen Rädern zogen die Häftlinge mit. An
einem Zugseil waren Querhölzer befestigt, an welchem je zwei Männer zu beiden
Seiten ziehen mussten, mehrere hintereinander. Die Häftlinge trugen gestreifte
Kleidung und meist Holzlatschen, die SS-Männer dagegen waren in Mäntel oder
Tarnplanen gekleidet. Mit Schrecken prägte sich mir folgendes Ereignis ein:
Weil bei uns die Straße ansteigt, schlug die SS jetzt auf die Leute ein, die
solche Wagen in Richtung Waldhaus zerrten. Da brach ein Opfer unter der
Lederpeitsche zusammen. Sogleich wurde dieser blutende Mann auf den Wagen
geworfen. Erst jetzt bemerkte ich, dass dort schon welche lagen. Kurz vorm
Waldhaus wurde ein Halt gemacht. Aus einer Unterhaltung erfuhr ich, dass es
Juden waren. (...) Ich kann mich der Anzahl nicht mehr erinnern, aber
fünfhundert sind es wohl nicht mehr gewesen." (Quelle: ebenda S. 25)
Hans Gaertner
und Ute Näser enthüllen am 28. Mai 2006 in Hertigswalde die erneuerte
Tafel zum Gedenken an den Todesmarsch der Schwarzheide-Häftlinge |
Die
neue Tafel an der Mauer zur alten Schule in Hertigswalde (heute Ortsteil von Sebnitz) |
Nach
der Lesung. Ingeborg Fleischhammer, Hans Gaertner (Mitte) und Werner Döring im Gespräch |
Nachmittags im Sebnitz. Hier, im Büro des Linkspartei-MdB
Monika Knoche, verlasen die pensionierte Sebnitzer Lehrerin Ingeborg
Fleischhammer sowie Nadine Näser, Anja Schenker und René Senenko
unveröffentlichte Briefe und Berichte von Überlebenden des Todesmarschs
(Schwarzheide -- Theresienstadt 1945). Die Briefeschreiber, denen wir unsere
Stimme liehen, waren
Tschechoslowaken jüdischer Herkunft: Jan Farsky, geb. 1919 in Prag, und Miloš
Dobrý, geb. 1923 in Prag. Zu Gehör kam auch der Brief von Liese Lom über
ihren verstorbenen Mann Karel Lom, ebenfalls ein čsl. Bürger jüdischer
Eltern, sowie der Bericht des Kommunisten Gilbert
Dupau aus Frankreich, geb. 1923, der wegen Sabotage im besetzten Frankreich
verhaftet und als politischer Häftling nach Sachsenhausen deportiert worden war.
Nach der Lesung berichtete Ute Näser, wie es ihr in den Jahren 1999 und 2000
mit Hilfe von Fragebögen gelungen ist, die Todesmarsch-Überlebenden zu diesen
Berichten zu bewegen. Da viele der Absender inzwischen verstorben sind, stellt
die Sammlung dieser Briefe, es sind mehr als 20, inzwischen ein
unwiederbringliches Zeitdokument dar. Ute Näser beabsichtigt, zusammen mit dem Dresdner
Hatikva-Verein die Briefe zu publizieren.
Hans Gaertner, stellvertretender Vorsitzender des Prager Vereins der
Schwarzheide-Überlebenden, also einer der Überlebenden, ergänzte in seiner
Schilderung das Gelesene und erzählte ausführlich, wie er damals die
Ereignisse in Schwarzeide und danach bis zur Befreiung erlebt hat. So haben die
Häftlinge manches recht unterschiedlich wahrgenommen. Diese Erinnerungen
zusammenzuführen, auch das war ein Verdienst von Ute Näser im Rahmen ihres
damaligen Projektes.
Zum Schluss sei noch angemerkt, dass der Versammlungsraum in
der Langen Straße zu Sebnitz zwar gut gefüllt war, aber jugendliche
Teilnehmer(innen) nur gering an Zahl waren. Das merkte auch Werner Döring aus
Lohsdorf kritisch an. Was nützt uns die Erinnerungsarbeit, wenn sie von der
nächsten Generation nicht weitergeführt wird? Zwar suchen wir den Kontakt zur
Jugendlichen, insbesondere auch zur Sebnitzer Jumawa-Gruppe ("Jugend macht
was"), doch junge Leute lassen sich ungern an die Hand nehmen, und so hege
ich die Hoffnung, dass einige von ihnen ihren eigenen Zugang zur lokalen
Geschichte finden werden. Vielleicht gibt es dann auch uns von der Gruppe
Grenzlos noch.
Text und Fotos: René Senenko
* Manchen Lesern mag dieser
Tafeltext unfertig, ja fragmentarisch erscheinen, doch sei daran erinnert, dass
diese Tafel einst Bestandteil eines Lehrpfades war. Die 16 Tafeln des in den
80er Jahren angelegten historischen Lehrpfades "Dem Schweigen
entrissen" gibt es heute noch, wenngleich so manche Tafel seit der
politischen Wende nach Zerstörung, Diebstahl und Verwitterung erneuert werden musste. Seit
dem Vorjahr stehen die 16 Steine und Platten in ihrer Gesamtheit unter
Denkmalschutz.