Sächsische Zeitung
Mittwoch, 20. Dezember 2006



Beim Bummel über Geschichte stolpern

   

René Senenko
 
Sebnitz. Rene Senenko von der Gruppe Grenzlos regte an, in Sebnitz mit „Stolpersteinen“ an NS-Opfer zu erinnern.

Herr Senenko, Sie haben mit Ihrem Vorschlag für Aufsehen gesorgt. Was ist das Anliegen des Projekts „Stolpersteine“?

Viele Opfer, die das Naziregime einst gefordert hat, sind doch heute völlig vergessen. Anliegen des Stolperstein-Projekts ist es, diesen Opfern ihre Namen zurückzugeben – und zwar direkt an ihrer letzten Wohnstätte. Die Lebensdaten des betreffenden Menschen werden auf eine Metallplatte geprägt, die auf einem Pflasterstein befestigt in den Gehweg eingelassen wird. An diesen glänzenden Steinen bleibt der Blick hängen. Man stolpert sozusagen mit den Augen darüber.

Bekannt ist, dass aus Sebnitz jüdische Familien deportiert und umgebracht wurden. An diese Familien erinnern allerdings bereits Gedenktafeln. Brauchen wir da extra noch Stolpersteine?

Das entscheiden die Beteiligten. Zur Klarstellung: Es geht bei dem Projekt nicht ausschließlich um jüdische Opfer. Stolpersteine werden all jenen Menschen gewidmet, die von den Nazis wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung, wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder wegen ihrer Behinderung oder sexuellen Orientierung umgebracht worden sind. Ein Stolperstein kann an den Wehrmachtsdeserteur, der in den letzten Kriegstagen noch wegen Fahnenflucht erschossen worden ist, ebenso erinnern wie an politisch Verfolgte, an Zeugen Jehovas, an Sinti und Roma, an Schwule etc.

Ist denn bekannt, ob es aus Sebnitz solche NS-Opfer gibt, wie viele es sind und wo sie wohnten?

Nur zum Teil. Aber genau das macht das Stolperstein-Projekt ja so spannend. Warum sollte der Terror beispielsweise gegen Behinderte um Sebnitz einen Bogen gemacht haben? So wie mein Onkel Josef – er war kein Sebnitzer – wegen seiner Behinderung auf dem Sonnenstein vergast worden ist, so gab es in vielen Familien Opfer, die vielleicht mit der Zeit vergessen worden sind.

Wer soll denn forschen?

Schulklassen, Vereine, interessierte Sebnitzer – es gibt so viele Möglichkeiten. Die Forschungen für die Stolpersteine können langfristig laufen, über Jahre. Das Anliegen eignet sich also wunderbar für Schulprojekte. Die Schüler übernehmen dann die Patenschaft für ihren Stolperstein, so dass sie eine ganz persönliche Beziehung zu der Person, über die sie Nachforschungen angestellt haben, entwickeln können. Wir, die „Gruppe Grenzlos“, sind nur die Anreger.

Ein Stolperstein kostet 95 Euro. Bevor er verlegt werden kann, muss er bezahlt sein.

Auch das ist kein Problem. Die Steine werden über Spenden finanziert oder über Patenschaften für einzelne Steine. Wenn das Projekt einmal ins Laufen gekommen ist, dann wird sich auch Geld dafür finden. Wie wir über das Behördliche hinaus vorgehen wollen, darüber müssen wir uns in Sebnitz verständigen – zusammen mit dem Freundeskreis des Museums, Schulen, Kirchen und allen, die an dem Projekt mitarbeiten möchten. Wir möchten die Idee Anfang des kommenden Jahres in einer öffentlichen Veranstaltung vorstellen.

Welche Erfahrungen hat man in anderen Städten gemacht?

Rund 10000 Stolpersteine sind republikweit bereits verlegt worden. Das spricht für sich. Wenn das in anderen Kommunen klappt, dann schaffen wir es in Sebnitz auch. Ich glaube, dass diese Erinnerungskultur in anderen Städten so gut ankam, weil eine kleine Messingplatte für eine einzelne Person dem vorübergehenden Passanten viel näher geht als ein abstraktes Denkmal. Nicht umsonst haben sich andernorts so viele Vereine, Schulklassen und Bürger daran beteiligt. Wenn Schüler beginnen, über einzelne Schicksale nachzuforschen und Angehörige der Opfer ausfindig zu machen, – wie könnte man Geschichte greifbarer vermitteln wenn nicht so?

Das Gespräch führte Christian Eißner.