Siebzig
Söhne von Dolní Poustevna (Niedereinsiedel) sind „für Gott, Kaiser und
Vaterland“ auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges verblutet. 15
blieben vermisst. Unter den Gefallenen finden wir die Namen von 31
Kunstblumenarbeitern, 12 Arbeitern aus anderen Produktionszweigen, von 20
Handwerkern und Gewerbetreibenden, zwei Beamten, einem Landwirt, einem Lehrer
– sowie den Namen eines Fabrikantensohns. Das Vaterland, für das es sich zu opfern lohnen sollte, hieß damals Österreich-Ungarn.
Dolní Poustevna
Der Fabrikantensohn und der Journalist
René Senenko
Gleich am alten deutsch-tschechischen Grenzübergang zwischen
Sebnitz und Dolní Pousteva (Niedereinsiedel) steht ein alter Fabrikbau, der
viele Jahre zur Kunstblumenfirma Centroflor gehörte. Er begrüßt als
vietnamesische Markthalle auf der tschechischen Seite noch heute jeden
Touristen, der die Grenze passiert. 1905/06 wurde hier an der Stelle einer
abgebrannten Papiermühle die „Erste Nordböhmische Metallwarenfabrik Adolf Rößler“
errichtet. Die Rößlers hatten nicht nur das Unternehmen gegründet, sie hatten
auch familiären Nachwuchs. Als der erste Weltkrieg ausbrach, wurde der 24jährige
Spross, das einzige Kind der Rößlers, gleich zu Kriegsbeginn im Juli 1914
eingezogen.
Der Rößlersche Fabrikbau in Dolní Poustevna um 1910-1914 und einhundert
Jahre später. Die historische Aufnahme zeigt rechts im Bild ein Schildhaus an der deutsch-österreichischen Grenze, möglicherweise in den Farben Sachsens grün-weiß gestreift. (Archiv Oblastní muzeum v Děčíně). Die neue Aufnahme stammt vom Verfasser |
Im südböhmischen Písek stieß der Fabrikantensohn
Rudolf Rößler auf sein k.u.k. Regiment und lernte während des „Einwaggonierens“
einen Korporal aus Prag kennen. Dieser Korporal war ein fünf Jahre älterer
Reservist, der im Zivilleben – zuletzt in Berlin – als Journalist sein
Auskommen hatte. Auch einen Roman hatte der Mann bereits veröffentlicht.
Gemeinsam fuhren die beiden im 11. Infanterieregiment an die Front und wurden
Freunde. Gegen die Serben ging es. Was die beiden Soldaten jedoch in den Schützengräben
am serbisch-bosnischen Grenzfluss Drina erlebten, wurde für sie die Hölle. Der
Korporal führte Tagebuch. Daher wissen wir von den alltäglichen Strapazen, von
den grassierenden Krankheiten und Nöten, von den entsetzlichen Verwundungen,
die die Schrapnell-Granaten herbeiführten, von der Läuseplage, vom Mangel an
Kost und warmer Kleidung, vom massenhaften Sterben im Kugelhagel des Gegners.
Von Heldentum keine Spur. Tausende Soldaten, die damals in der „Schlacht an
der Drina“ umkamen, blieben unbestattet zwischen den Frontlinien liegen oder
versanken in Massengräbern. Allein das Regiment, dem die beiden Freunde angehörten,
verlor im ersten Kriegsjahr rund zehntausend Soldaten und Offiziere. Vor jedem
Gefecht rechneten die beiden Freunde selber damit, zu den nächsten zu gehören,
auf die das kalte Soldatengrab wartet. In einer Gefechtspause auf der
Drina-Halbinsel Parašnica, wo ihre Truppen sich seit Wochen verschanzt hatten,
notierte der Korporal am 2. Oktober 1914 in sein Tagebuch: „Rößler hatte
sich von mir verabschiedet, als ob es in den Tod gehe und mir die Adresse seines
Vaters gegeben. Heute früh erfuhr ich, dass er mit einem schweren Bauchschuss
bewusstlos zum Hilfsplatz getragen worden ist.“ Noch am gleichen Vormittag war
Rößler seinen Verwundungen erlegen. Der Korporal teilte das den Eltern des
Freundes mit. Der Gedanke an die Wirkung, die sein Brief bei ihnen hervorrufen
musste, „erschütterten mich dermaßen,“ notierte er abends, „dass ich während
des ganzen Tages keiner anderen Gedanken fähig war.“
Rudolf Rößler kam mit 133 weiteren Gefallenen auf einem für sie angelegten
Soldatenfriedhof bei Bosanska Rača unter die Erde. Als Offiziersanwärter
stand ihm ein eigenes Grab zu. Herbstblumen schmückten ein Holzkreuz mit seinem
Namen. Ob dieser Friedhof heute noch existiert, wissen wir nicht.
Links: 1913. Der
Reservist Kisch ein Jahr vor Beginn des ersten Weltkrieges. Rechts:
Soldaten der k.u.k. Monarchie im ersten Weltkrieg. |
Am 19. Oktober traf die Antwort der Eltern Rößlers ein. Dringend bitten sie
den Korporal, alles zu unternehmen, damit der Tote exhumiert und in heimatlicher
Erde beigesetzt werden kann. Eine solche Bitte hatte im Krieg kaum Aussicht auf
Erfolg. Rößlers Gebeine liegen noch heute an der Drina.
Als der Korporal einen Monat nach Rößlers Tod erfährt, dass einer seiner
eigenen Brüder an der Ostfront gefallen ist, schrieb er in sein Tagebuch:
„Was ich in den letzten Wochen erlebt, war nur fremder Jammer gewesen. Nun, da
es mich unmittelbar ins Herz traf, fasste mich ein wahnsinniger Hass gegen den
Krieg.“
Hatte er sich schon während der Mobilmachung nicht von der Welle der
Kriegsbegeisterung mitreißen lassen, die in Serbien überlebten blutigen
Gemetzel haben aus dem Mann einen entschiedenen Kriegsgegner gemacht. Im
ersten Kriegswinter wird der Korporal verwundet und bricht seine Notizen ab.
Auszüge aus dem Kriegstagebuch des Korporals – sein Name war Egon Erwin
Kisch – sind vier Jahre nach dem Krieg in Prag unter dem Titel „Als Soldat
im Prager Korps“ erschienen. 1929 folgte eine Ausgabe unter dem Titel
„Schreib das auf, Kisch“, die in Berlin herauskam; ein Jahr später erschien
eine Ausgabe in Tschechisch.
Der Schauplatz der
Schlacht an der Drina. Ob die von den Habsburgern nach dem
Gemetzel |
Der Verfasser dankt Jan Němec für die Informationen aus Dokumenten des Oblastní muzeum in Děčín über Dolní Poustevna. Außerdem dankt er Rainer Böhme aus Sebnitz für die Mithilfe bei der Recherche vor Ort. Die tschechischsprachige Fassung des Beitrages erschien in Ausgabe 2/ 2013 der "Děčínské vlastivĕdné zprávy" (Děčíner heimatkundliche Berichte), herausgegeben vom "Oblastní muzeum v Děčíně". Das Heft kann im Museum oder online über http://www.muzeumdc.cz zum Preis von 50 Kč + Porto bestellt werden. Angemerkt sei, dass die tschechische Fassung andere Abbildungen enthält. Außerdem hat der Redakteur Milan Rosenkranc einen Anhang mit Namen und biografischen Angaben von 50 Männern aus dem Bezirk Děčín/ okres Děčín ergänzt, die in den Reihen der čsl. Auslandsarmee im Kampf gegen Hitler im 2. Weltkrieg gefallen sind, unter ihnen 28 Männer deutscher Nationalität.
© 2013