Im Oktober 2012 nahm die in
Frankfurt am Main lebende Hana Laufer Kontakt zu uns auf. Die 73-Jährige hatte die auf
unserer Internetseite veröffentlichte Transportliste von 1000
tschechoslowakischen Juden entdeckt. Diese Häftlinge waren 1944 von
Auschwitz-Birkenau nach Schwarzheide bei Dresden überstellt worden, um dort das
von alliierten Bomben stark beschädigte Brabagwerk wiederherzustellen. Auch
Hanas Onkel Hugo Laufer gehörte zu dieser Häftlingsgruppe. Hana Laufer schrieb
auf unsere Bitte hin einen Bericht über das Schicksal ihres geliebten Onkels
und über ihre Familie, einer Tschechisch sprechenden jüdischen Familie in der
Tschechoslowakei. Seit 1966 lebt die diplomierte Übersetzerin Hana Laufer in
der Bundesrepublik. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik besucht sie
mit ihrer Mutter erstmals Schwarzheide, wo ihr Onkel Hugo drei Monate vor dem
Kriegsende zu Tode
kam.
Oktober 2012
Mein Onkel Hugo
Bericht von Hana Laufer (Frankfurt/ M.)
Hana Laufer, die Autorin des
Beitrags, besuchte mit ihrer Mutter
im Mai 1993 erstmals den Todesort ihres Onkels auf dem BASF-Gelände in
Schwarzheide bei Dresden. Das Foto zeigt sie an der zu DDR-Zeiten
errichteten und heute noch bestehenden Gedenkstätte. |
Unsere Familie
Die Eltern meines Vaters sprachen Deutsch. Ihre beiden Söhne jedoch beherrschten beide Sprachen - Deutsch und Tschechisch - perfekt. Man war in der Familie zwar nicht sehr religiös, aber die üblichen jüdischen Feiertage, wie Jom Kipur, Chanukka und Pessach haben wir eingehalten. Ich besitze z.B. noch die von meinem Vater aufbewahrten Matzen vom Pessachfest, das er mit seiner Mutter im Jahre 1941 und 1942 gefeiert hat. Zuerst bedauerten die Großeltern, dass mein Vater keine jüdische Frau heiraten wollte, aber meine Mutter ist vor der Hochzeit zum jüdischen Glauben übergetreten, und sie wurde nach der Hochzeit sehr herzlich in die Familie aufgenommen.
Mein Onkel Hugo Laufer ist am 1.11.1906 in Lundenburg, Mährisch Neudorf (tschechischer Name: Nova Ves u Breclavy) zusammen mit seinem Zwillingsbruder auf die Welt gekommen. Der Bruder starb bereits im Säuglingsalter. Hugo hat 1924 eine Lehre als Schreiner in Frydek/ Mähren abgeschlossen und ist dann nach Prag gegangen. Dort fand er Arbeit. Sein älterer Bruder war mein Vater Arthur Laufer, geboren 1902 in Holubice in Mähren. Mein Vater und Onkel Hugo waren sich sehr nah, und sie haben sich in Prag oft gesehen und gemeinsame Ausflüge unternommen. Ich glaube nicht, dass Hugo ein sehr politischer Mensch war. Eher nicht. Diese zwei Brüder hatten noch zwei ältere Schwestern, Olga Feldstein und Franciska, die Fanci genannt wurde. Olga war Mutter einer 1938 geborenen Katinka und Franci eines 1925 gebürtigen Erwin.
Mein Onkel Hugo war ein romantischer und aufgeschlossener Mensch. Er war fröhlich, lebenslustig und steckte voller Energie. Als Tischler fertigte er für seine Schwester das ganze Schlafzimmer. Wie ich von meinem Vater gehört habe, hatte Hugo eine Auswanderung nach Palästina beantragt, aber seine Schwester Fanci mit ihrem Sohn Erwin, geb. ca. 1929, hat ihm die Bewilligung weggenommen und ist selber mit Erwin 1936 nach Palästina ausgewandert. Doch ist sie nach kurzer Zeit zurückgekommen.
Hugo war sehr familiär und besuchte oft seine Eltern in Frydek Mistek in Mähren. Sein Vater, also mein Großvater, Zikmund Laufer (er starb 1940 in der Prager Wohnung), war bei der tschechischen Bahn als Stationsvorsteher angestellt, wurde oft versetzt und deshalb ist jedes seiner Kinder in einem anderem Ort Mährens zur Welt gekommen. Die Großmutter, Ernestine Laufer, von ihrem Gatten Tinka genannt, geboren 1875 und 1944 in Auschwitz umgekommen, war eine gute Hausfrau. Meine Mutter, Gabriele Laufer hat ihre Schwiegermutter sehr gerne gehabt. Die Großeltern sind irgendwann nach Prag umgezogen. Dort haben wir als 5köpfige Familie nach dem Krieg bis zur Auswanderung nach Israel März 1964 gewohnt.
Mein Vater hat 1922 Abitur auf dem deutschen Staatsgymnasium in Frydek Mistek / Mähren abgelegt. Er ging nach Wien, um Jura zu studieren, kehrte aber nach Prag 1929 zurück, ohne das Studium beendet zu haben. Er suchte in Prag eine Bleibe und fand sie zur Untermiete bei meiner (christlichen) Großmutter Gabriele Herynk. Deren Tochter Gabriele Kral war damals 14 Jahre alt und brauchte Nachhilfe im Rechnen. So hat meine Mutter meinen Vater kennen gelernt. Neun Jahre später, 1938, haben beide geheiratet. Da mein Vater Deutsch und Tschechisch beherrschte, hat er eine Stelle bei einer Versicherungsgesellschaft bekommen.
Unter der Nazi-Besatzung
Nach der Besetzung der Tschechoslowakei
durch die Nazis 1939 dauerte es nicht all zu lange, bis - wie im
"Reich" - die Juden verfolgt wurden und in den Konzentrationslagern
verschwanden. Mein Vater hat nach Einführung der Rassengesetze 1939 seine
Stelle verloren und musste den gelben Stern tragen, als Straßenkehrer arbeiten
oder Schnee räumen und schwere Möbelstücke tragen, durfte nicht mit der
Straßenbahn fahren, nicht umziehen und konnte nicht mit uns wohnen. Uns Kinder
hatten unsere Eltern bei Verwandten versteckt, zuletzt bei der Mutter unserer Mutter am
Rande Prags.
Die erste Station auf dem Weg in den Tod hieß für die Juden der ČSR
(und nicht nur für diese) Theresienstadt in Nordböhmen. Die Nazis ließen den
Ort als gettoähnliches KZ im November 1941 einrichten. Als Onkel Hugo im Jahr 1941 mit
dem
ersten Transport nach Theresienstadt deportiert wurde, war er 35 Jahre alt. Später,
1942, kamen auch seine Mutter (64 Jahre) und Tante Fanci nach
Theresienstadt. Die Nazis steckten Onkel Hugo in ein Arbeitskommando, das außerhalb
des KZ Theresienstadt zum Einsatz kam. Meine Mutter besuchte Onkel Hugo oft in
Theresienstadt. Sie riskierte einiges. Sie brachte Essen und Medikamente und
warf sie auf die Straße,
auf der die Häftlinge vorüberkommen mussten. Sie haben diese „Mitbringsel“
aufgehoben und gleich gegessen. Da mein Onkel
Hugo sehr an mir gehangen hat, hat mich meine Mutter – wenn auch
selten – nach Theresienstadt mitgenommen. Ich war damals - 1942 - drei
Jahre alt. Meine Mutter ist von Prag mit dem Zug nach Bohusovice
gefahren, von wo sie zwei Kilometer bis zum Ghetto zu Fuß gehen musste.
Diese Reisen waren für meine Mutter nicht ungefährlich.
Als meine Großmutter Ernestine Laufer für die Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz bestimmt wurde, sprang Onkel Hugo in letzter Sekunde mit in den Zug. Er wollte seine Mutter nicht alleine fahren lassen. Es war der Transport Eb-1081 vom 18. Mai 1944. Mein Vater hat viele Briefe und Postkarten im Original vom Onkel Hugo und seiner Mutter von Theresienstadt aufgehoben und diese befinden sich jetzt in meinem Besitz. Mein Vater Arthur Laufer wurde am 25.2.1945 nach Theresienstadt deportiert. Er sollte seine Kinder mitnehmen (mich, Hana 5 Jahre alt, Eva 1 ½ Jahre alt, Sonja 4 Wochen alt), aber mein Vater ist alleine gegangen und zum Glück haben sich die Nazis nicht weiter darum gekümmert. Wir waren mit der Mutter bei unserer Großmutter mütterlicherseits am Rande von Prag in ihrem Reihenhaus im Keller bis zum Kriegsende versteckt.
Nach dem Krieg
Vater hat überlebt. Nach dem Krieg kam er völlig erschöpft und als kranker Mann zurück. Er arbeitete wieder bei der staatlichen Versicherungsgesellschaft als Sachbearbeiter. Er musste zu den Opfern von Verkehrsunfällen mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis weit hinter Prag fahren und mit den Geschädigten die Höhe des Schmerzensgeldes verhandeln und festlegen. Es wurde meinem Vater immer mehr Arbeit zugeteilt und immer weniger Geld ausgezahlt. Nach Veruntreuungsvorwürfen ist mein Vater in seinem 53sten Lebensjahr im Büro zusammengebrochen. Man brachte ihn nach Hause, dann kam er in ein Krankenhaus. Danach konnte er nicht mehr arbeiten und bekam fortan eine sehr niedrige Invalidenrente ausgezahlt. Lange nach Vaters Zusammenbruch hat man den wahren Dieb gefunden. Da er Parteimitglied war, kam er mit einer geringen Strafe davon. Bis zur Auswanderung 1964 hatten wir nie genug Geld für Grundnahrungsmittel, wir mussten anschreiben lassen, - und das, obwohl ich nach dem Abitur im Jahre 1958 als Fotografin auf der Erdvermessungs-Universität in Prag und meine jüngere Schwester Eva Laufer, geboren 1943, auch als Fotografin auf der Landwirtschaftlichen Universität in Prag tätig war. Mutter hat in Prag nach dem Zusammenbruch meines Vaters bei einer Elektro-Projekt Firma als technische Zeichnerin gearbeitet, wo sie so oft, wie es ging, Überstunden geleistet hat - auch nachts -, um mehr Geld nach Hause zu bringen. Die jüngste, erst 1945 zur Welt gekommene Schwester Sonja, hatte gerade vor der Auswanderung ihr Abitur in Prag gemacht.
Nach dem Krieg hat Vater seinen Bruder Hugo intensiv gesucht, und schließlich schrieb er den traurigsten Bericht seines Lebens:
„In der Woche zwischen dem 19.8.1945 und 25.8.1945 war ich bei der jüdischen Gemeinde, Bezirk Prag, und stand dort in der Schlange mit anderen Personen. 2 Männer haben sich über Oranienburg unterhalten und da habe ich nach Hugo gefragt. Einer der Männer kannte Hugo und als ich ihn das Foto von Hugo zeigte, hat er Hugo sogleich erkannt. Er hieß I. Löwy und willigte ein, mir in seiner Wohnung nähere Auskunft über Hugo zu geben. Er sagte mir sofort, dass Hugo irgendwann im Februar 1945 in Schwarzheide gestorben ist… Hugo war schon im Dezember 1944 sehr schwach und wurde immer schwächer, er hat nur noch Wasser getrunken und hielt sich hauptsächlich im Waschraum auf. Er hätte medizinische Hilfe gebraucht, die es aber für ihn nicht gab. Als er starb, haben die Nazis es nicht mehr geschafft, die Leichen nach Dresden ins Krematorium zu überführen, also haben Hugos Kameraden ihm ein Begräbnis ausgerichtet, und er ist irgendwo in der Nähe des KZ im Wald beerdigt worden. Er wurde nach jüdischem Brauch beerdigt und sein Name und die Nummer wurden auf die Innenseite des linken Beins geschrieben…
Aus Schwarzheide kam vom Hugo ein Brief, der aber nicht von ihm geschrieben wurde, warum konnte sich Herr Löwy nicht erklären. Herr Löwy kann sich nicht erinnern, dass Hugo von uns oder anderen Verwandten gesprochen hätte und er weiß auch nicht, ob Hugo je ein Päckchen von uns erhalten hat. – Hugo, dies ist Deine Sterbeurkunde – mit Gott und auf Wiedersehen.“ | |
Mai 1993. Gabriele Laufer (1914-2002) bei ihrem Aufenthalt in Schwarzheide. Im Bild steht sie ungefähr an der Stelle, wo ihr Schwager 1944 von seinen Kameraden beigesetzt worden ist. Im Hintergrund die Autobahn Berlin - Dresden. / Foto Hana Laufer |
Wir hatten zu Hause zwar einige Bücher, aber nicht all zu viele. Es gab auch eine Bibliothek bei uns in der Nähe, wo wir Kinder Bücher ausleihen konnten. Mein Vater konnte sich nach dem Krieg nicht auf das Buchlesen konzentrieren. Aber es las regelmäßig Zeitungen und verfolgte die Nachrichten im Radio. Nach dem Machtwechsel 1948 in der ehemaligen Tschechoslowakei und nach dem Slansky-Prozessen 1952 wurde meinem Vater das Leben als Juden schwer gemacht.
Legal ausgewandert sind wir am 30. März
1964, nachdem sich Kennedy und Chruschtschow 1963 in Wien getroffen hatten und
sich daraufhin die politische Lage in Europa ein wenig entspannte. Nach Vaters
Tod und nach der politischen Wende in Europa 1989/90 setzte ich die Sucharbeit meines
Vaters fort. Vater hatte zwar den Suchdienst in Arolsen angeschrieben, aber bis zu
seinem Tode im Juni 1979 kamen von dort nur negative Antworten. Ungefähr im März
1993 habe ich begonnen, Briefe nach Sachsenhausen, Oranienburg und schließlich
nach Schwarzheide zu schreiben und kam mit einem jungen Herrn, Marc
Cyrus Vogel, in Kontakt, dem Public-Relations-Vertreter der BASF in
Schwarzheide. Als wir, meine Mutter und ich, im Mai 1993 Schwarzheide
aufsuchten, hat uns Herr Vogel zwei Büchlein über Schwarzheide geschenkt und
uns durch das Gelände geführt.
Text Hana Laufer, Redaktion René Senenko