September 2009
Gespräch
mit Eva und Rudolf Roden
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Im Jahr 2009 ist auf dem tschechischen Buchmarkt ein Titel erschienen, der von einem Ehepaar stammt, das die Shoa überlebt hat: Eva und Rudolf Roden. Für uns als Gruppe Grenzlos ist Rudolf Rodens Schaffen von Interesse, weil auch er zu den Überlebenden des Schwarzheider Todesmarschs zählt. Rudolf Roden ist heute 86 Jahre alt, seine Frau Eva 85. Das Buch, das nur in Tschechisch vorliegt, trägt den Titel "Životy ve vypůjčeném čase" (Leben in geliehener Zeit) und kam im Academie Verlag Prag heraus. Es ist Rodens bisher fünftes Buch. Mangels deutschsprachiger Informationen und Veröffentlichungen von und über das Ehepaar Roden geben wir hier komplett ein von Milan Plzák (Neratovice) für die Gruppe Grenzlos übersetztes Interview von Alice Marxová mit den beiden Rodens wieder. Es war nach der Erstausgabe von Rudolf Rodens Buch 2007 in der tschechischsprachigen Monatsschrift "Roš Chodeš"(1), dem Bulletin der jüdisch-religiösen Gemeinden der böhmischen Länder und der Slowakei erschienen. |
Nie sagten wir «ob»
Ein Gespräch mit dem Ehepaar Roden
(2007)
Eva und Rudolf Roden (83 und 84) stammen aus Prag. Beide waren im Mai 1942 nach
Theresienstadt und im Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Eva war im
Kinderblock eine der Erzieherinnen, bevor sie im Sommer 1944 zum Arbeitseinsatz
nach Hamburg und Umgebung verschickt wurde. Danach kam sie ins Lager
Bergen-Belsen, wo sie die Befreiung erlebte.
Rudolf geriet im Juni 1944 in das Arbeitslager Schwarzheide. Von da kam er gegen
Kriegsende mit einem Hungermarsch zurück nach Theresienstadt. Nach dem
Krieg begann er, Medizin zu studieren. Das Studium beendete er in Kanada, wohin
die beiden nach dem Februarputsch 1948 übergesiedelt waren. Nach fast 20 Jahren
in einer Praxis für Allgemeinmedizin spezialisierte er sich auf Psychiatrie und
erwarb eine Professur an der Universität Texas. Noch heute betreibt er eine
Privatpraxis.
Unlängst erschien im Prager Verlag Academie ihr gemeinsames Buch, das
"Leben in geliehener Zeit" heißt. Er [Rudolf Roden] widmete es seinen
Kindern. Es ist, als ob dieser Fakt sowohl die Form der Erzählung als auch den
Ausdruck beeinflusst hat: Sympathische Nüchternheit und die Tendenz, nicht nur
Schrecken und Schmerz zu erwähnen, sondern auch das zu schildern, was ihnen in den
schwersten Zeit zum Überleben half. Ehepaar Roden nahm dieses Jahr an der
internationalen Buchmesse in Prag teil. Bei dieser Gelegenheit baten wir sie um
ein Gespräch.
Frage: Vor ein paar Tagen erinnerten wir uns an das Ende des
zweiten Weltkrieges. Wenn Ihr in euren Gedanken zurückkehrt, wie habt Ihr den
8. und 9. Mai 1945 erlebt?
Eva Roden: Ich hatte Typhus und lag in Belsen. Das ist alles, was ich
dazu sagen kann. Es war kein Spaß.
Rudolf Roden: Wir beendeten am 8. Mai einen Hungertodesmarsch. Ohne dass
uns das klar wurde, verließen uns vor Theresienstadt die SS-Männer. Wir
torkelten ins Getto. Wer nicht konnte, den zogen wir. An der Schranke stand ein
Landjäger [Gendarm]. Es war schon dunkel, aber Theresienstadt war bisschen
beleuchtet. Der Landjäger befahl uns in deutscher Sprache, uns auf den Boden zu
setzen. Vor uns war das Gebäude, das wir das Gendarmenkasino nannten. Und auf
dem Gebäude hingen zwei Fahnen, eine weiß mit rotem Kreuz und die andere weiß
und rot mit blauem Dreieck. Uns kam das unglaublich vor, bis wir auf dem Helm
des Landjägers eine Trikolore bemerkten. Was soll das bedeuten, fragten wir uns
im Kreis um Jirka Wassermann auf Tschechisch. "Ihr sprecht
Tschechisch?" wunderte sich der Landjäger. Dann rannte er für einen
Moment ins Kasino. Sie beleuchteten uns mit einem Reflektor. Aus dem Kasino kam
ein Offizier gelaufen, sich die Uniform zuknöpfend. Er nahm Haltung an und
sagte: "Brüder, ich begrüße euch als freie Bürger der freien
Tschechoslowakei". Das war unendlich herrlich!
Habt Ihr in Theresienstadt noch jemand getroffen, den Ihr
von eurem ersten Aufenthalt her kanntet?
Sicher. Wir wurden zu den Magdeburg-Kasernen geschickt. Wie wir die Baracken
entlang schwankten, meinte Jirka auf einmal: "Hier wohnte meine Mutter,
aber sie ist bestimmt nicht mehr da." Wir gingen hinein, und dort drinnen
saß eine kleine Frau, die mit Nähen beschäftigt war. Sie trug eine Brille. Es
war die Näherin Wassermann, Jirkas Mutter. Als wir auf sie zukamen, erkannte
sie den Jirka und schrie auf: "Jirka, du lebst!", um gleich
nachzusetzen: "Und schau an, wie schmutzig du bist!" Wir mussten
unwillkürlich lachen.
Ihr Buch berichtet von Aufenthalten in Theresienstadt,
Auschwitz, Arbeitslagern. Sie schreiben auch über den Widerstand in Auschwitz.
Welche Bedeutung messen sie ihm bei?
Eva: Das konnte man nicht als Widerstand bezeichnen.
Rudolf: Aber ja. Es waren zwar nur ein paar Leute, die bessere Arbeit, ein
bisschen mehr im Magen und die Möglichkeit hatten, mit Leuten im Lager zu
verkehren. Aber wir bereiteten wirklich etwas vor. Wir bemühten uns Benzin zu
beschaffen. Aus den Sammellagern - "Kanada" genannt - gelang es uns,
ein paar Gewehre zu bekommen. Dafür war der Kommunist Hugo Lengsfeld
verantwortlich. Wir pflegten in unserer Kommunikation eine besondere
Zeichensprache.
Als uns zum ersten Mal gesagt wurde dass Eintausend Männer Auschwitz für ein
Arbeitskommando verlassen sollten, dachten wir dass das eine Falle sei und wir
ins Gas sollten. Als es soweit war, machten wir ab dass wenn wir in Richtung
Gaskammern abbiegen sollten, die Revolte beginnen sollte. Wir standen rund 20 Minuten
lang auf dem
Scheideweg zwischen Gaskammern und Lagerausgang, als ob die SS-Männer die Spannung auskosten
wollten. Und dann bogen wir nach links ab, zu den Zügen.
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Waren euch die Menschen bekannt, denen die Flucht aus Auschwitz gelungen war: Rudolf Vrba und Vítězslav Lederer? Den Vrba kannte ich nur flüchtig. Lederer kannte ich gut. Er floh noch vor Vrba im Jahre 1944 dank der Hilfe eines SS-Mannes, der ihn bei der Flucht begleitete. Er bot es zuerst mir an, weil ich einen Zugang zu den Goldzähnen hatte. Aber einerseits glaubte ich ihm nicht ganz, andererseits konnte ich mir vorstellen, was nach meiner Flucht geschähe. Viele Menschen würden zur Vergeltung erschossen, z.B. auch Eva. Lederer entkam dem Lager, ging nach Prag und begab sich zweimal nach Theresienstadt. Er sprach dort mit dem damaligen Lagerältesten von Theresienstadt Murmelstein und erzählte ihm, was in Auschwitz vorging. Murmelstein erwiderte: "Wir wissen davon, aber was sollen wir machen?" |
Half der SS-Mann noch anderen zur Flucht?
Der Mann [SS-Mann Viktor Pestek] liebte ein jüdisches Mädchen, für das er nach Auschwitz
zurückkehrte. Er wollte ihr zur Flucht verhelfen, doch wurde er ertappt und
hingerichtet.
Im Buch erwähnen Sie die Blockältesten, jüdische
Häftlinge, die sich sehr grausam aufführten. Was für Leute waren das? Wurde
jemand von ihnen nach dem Krieg bestraft?
Rudolf: Als wir nach Auschwitz kamen,
waren dort schon fünf tausend Menschen aus dem Transport, der im September
gekommen war. Ich hatte einen Lagerältesten, den ich schon von früher her
kannte. Er war Jurist, ein ganz normaler Mensch. Aber er - ebenso wie die anderen
jüdischen Lagerältesten - legten eine Mentalität,
eine Methode, an den Tag, die sich von polnischen Lagerältesten abgeschaut
hatten: Nur wenn sie mit den Häftlingen brutal und
hart verfuhren, würden sie womöglich überleben. Das war für sie so etwas
wie ein Selbsterhaltungstrieb. Menschen, die erst nach dem März 1944 zu
Lagerältesten gemacht wurden, verhielten sich schon anders, weil sie wussten
dass sie sowieso im Gas enden und dass es keinerlei Bedeutung hatte, wenn sie grausam wie die Nazis
handelten. Sie waren anständiger.
Eva: Nach dem Krieg gab es niemanden, der auf jemanden böse sein mochte oder
diesen anzeigen und bestrafen wollte, weil die meisten von uns ja umgekommen
waren. Wenn auch... - in Hamburg hatten wir eine Lagerälteste, die sich uns
gegenüber sehr schlecht benahm. Sie hieß Truda, sie überlebte, und nach dem
Krieg wurde sie von den ehemaligen Frauenhäftlingen wegen Kollaboration
angeklagt. Wir sollten eine Petition unterschreiben, um ihre Schuld zu
dokumentieren. Doch sie fand unsere Adressen heraus und suchte uns alle auf. Sie weinte
sehr und bat uns, sie nicht anzuzeigen. Mit ihrem Ehemann nahm sie eine Waise an
und wollte nach Argentinien auswandern. Sie bat um Verzeihung. Ich sagte mir:
Ich bin glücklich dass ich lebe. Ich lasse sie. Ganz gewiss erschien sie nie
vor Gericht.
Wie verhielten sich nach eurer Rückkehr eure Bekannten
und Verwandten? Wie konntet Ihr nach allem, was Ihr erlebt habt, ins
Normalleben zurückfinden?
Eva: Ganz einfach. Ruda [Koseform von
Rudolf] ging Medizin studieren, mein Vater bekam seinen Juwelierladen zurück,
ich arbeitete in einem Büro. Es ging uns gut. Wir lebten in einer modernen
Wohnung, die uns ein Wohnungsamt zugeteilt hatte. Wir fanden ein paar Kameraden
wieder,
die überlebt hatten. Rudas Mutter und sein bester Freund kehrten zurück.
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Habt Ihr darüber nachgedacht, nach Israel auszuwandern, wie vor dem Krieg geplant? Ja, sicher. Früher, als die Transporte nach Theresienstadt begannen, hofften wir irgendwie illegal nach Palästina zu kommen. Ich sprach damals fließend Ivrit [modernes Hebräisch], Eva Englisch. Aber wir verpassten das. Doch war es sehr hilfreich dass wir vor dem Krieg in Prag der zionistischen Bewegung El Al beigetreten sind. Auch während des Krieges half das uns oft. Ich kam Dank dieser Bekanntschaften freiwillig nach Theresienstadt zu Eva. Dort wiederum rettete uns das einige Male vor dem Transport nach Osten. Wir hatten also bessere Chancen, bessere Unterkunft und eine bessere Arbeit. Jakob Edelstein, der erste Judenälteste, schützte die Zionisten. Sein Bestreben war es, in Theresienstadt möglichst viele junge Leute zu halten. Nach seiner Vorstellung sollte der Kern der jungen Generation irgendwann nach Israel gelangen und dort siedeln. |
Wir habt Ihr
euch entschieden?
Als wir lasen, worüber Politiker in Jalta sprachen, war uns klar dass wir in
der Tschechoslowakei Russen sein werden. Wir hörten Jan Masaryk, der im Jahr
1947 erklärte: "Ich fuhr nach Moskau wie ein Außenminister und kehrte
zurück wie ein russischer Lakai." Es war damals kein Problem, nach Israel
abzufliegen. Aber wir wollten nicht wieder in eine Situation geraten, die von
Krieg beherrscht ist. Wir wollten etwas ruhiges versuchen.
Viele Leute, die die Konzentrationslager überlebten,
neigten nach dem Krieg [in der ČSR] den Kommunisten zu.
Ja, viele Leute. Unsere Bekannten waren eher Ultrasozialisten als Kommunisten.
Zugleich waren sie häufig Zionisten, und es gibt doch keine größere
kommunistische Einrichtung als den Kibutz. Es herrschte ein naiver Glaube an
menschliche Gerechtigkeit vor. Aber es gibt keine solche Gerechtigkeit.
Wann nach dem Februar-Putsch 1948 gingt Ihr nach Kanada?
Im November 1948. Aber bereits vor dem Februar ersuchten wir um die
Übersiedlung. Deshalb wurde es uns zwar erlaubt, kostete uns aber großes Geld.
Wir mussten viele Menschen korrumpieren. Das gehörte zur Sache. Drei Monate
lebten wir dann in der Schweiz. Wir warteten auf das Visum und flogen dann
ab.
Konnten sie in Kanada problemlos studieren?
Einfach war es nicht. Es dauerte etwa zweieinhalb Jahre; dabei fehlten mir nur
noch zwei Prüfungsscheine. Wir verschuldeten uns sehr. Deshalb ging ich nach
den erfolgreichen Prüfungen in die Allgemeine Praxis, um den Kredit abzuzahlen.
Danach wollte ich plastische Chirurgie praktizieren. Aber die Klinik hielt
mich 18 Jahre lang fest, und danach war ich für einen Chirurgen zu alt. Nebenbei, im
Krankenhaus bemerkte ich einige Male dass dort Patienten lagen, die unter der
Achsel mit der Blutgruppe tätowiert waren. Das hatten die Angehörigen der SS.
Ich machte die Polizei darauf aufmerksam, aber der war es egal.
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Dann begannen
Sie, sich mit Psychiatrie zu beschäftigen? Ich interessierte mich immer für die Erfahrungen derer, die überlebten. Ich las darüber, gab später Vorträge dazu und spezialisierte mich auf die Psychiatrie mit Schwerpunkt zu traumatischen Erfahrungen von Menschen, die den Holocaust überlebt hatten. Es begann so dass ich nach dem Studium der Psychiatrie die Stelle in einem jüdischen Krankenhaus antrat. Beim Empfang sagte mir der Chefarzt: "Es ist gut dass du eine Nummer auf der Hand hast [tätowierte Häftlingsnummer], hier warten auf dich 140 polnische Juden." Der große Unterschied war allerdings dass tschechische Juden assimiliert waren, also nicht religiös, während polnische Juden in ihrer Heimat ganz anders gelebt hatten. Sie sprachen nicht einmal Polnisch. Ich musste ihretwegen Jiddisch lernen. |
Sicher lassen sich Ihre Vorträge hier nicht auf zwei Zeilen bringen. Trotzdem:
Welche Grunderkenntnisse vermitteln sie?
Ich beschäftige mich mit dem Prozess der Dehumanisation und der Reaktion
darauf. Auch mit der Art, wie diese Menschen sich in einem normalen Leben wieder
zurechtfinden. Die meisten sind aktiver als andere Menschen. Sie wollen sich etwas
entschädigen; das tun sie auch für jene, die nicht überlebten. Die anderen
hingegen hören auf zu funktionieren, denn sie können sich nicht von der
Vergangenheit lösen. Sie bleiben ihre eigenen Gefangenen und tragen ein
Gefühl der Schuld, jemanden geschadet zu haben, mit sich herum.
Denkt Ihr dass sich diese Gefühle auch auf die Kinder der
Überlebenden oder gar auf ihre Enkel übertragen können?
Rudolf: Die zweite Generation wird ganz bestimmt beeinflusst sein, aber ich
würde sagen, die dritte Generation nicht mehr.
Eva: Die Kinder meinten zu uns, wir seien Zyniker. Weil wenn wir etwas
erzählten, sprachen wir immer über Sachen, die gelungen sind. Sie verhalten
sich zu uns wie zu Heiligen, sie wollen uns nicht einmal etwas fragen, aus Angst
uns weh zu tun.
Haben Sie auch mit anderen Überlebenden gearbeitet?
Ja, mit US-Amerikanern, die im Pazifik kämpften. Sie erlebten ihre Situation
ähnlich. Aber es gab dort nicht das Gefühl der menschlichen Degradation. Sie
wussten dass sie nur gegen Japaner im Einsatz waren, die sie als einen starken
Feind hassten. Während dessen hatten die Juden ja das Gefühl, von der ganzen Welt
verraten zu sein.
Dennoch ist eure Geschichte nicht defätistisch. Ihr seid
so stark gewesen. Oder kam diese Kraft erst rückwirkend mit dem Bewusstsein
dass es für euch doch gut ausgegangen war?
Eva: Wir fühlten es so. Ich denke dass die Jungen in Ordnung waren.
Rudolf: Ich habe die Erfahrung gemacht dass aus einer schlechten Situation immer
ein Weg herausführt. Man musste natürlich Glück haben, glaubten aber daran
es zu schaffen. Wir sagten nie: Ob wir zurückkehren, sondern immer: Wenn wir zurückkehren.
Praktizieren Sie noch?
Meine Patienten sind meine Zeitgenossen, was etwas Herrliches ist. Ihre Kinder
und Enkel wollen sie nicht mehr hören. Also setzen wir uns zusammen und
plaudern.
Das Gespräch führte Alice Marxová
Redaktion dieser Site: R. Senenko
1
Roš Chodeš. Věstník židovských
náboženských obcí v
českých zemích a na Slovensku; Ausgabe Juni 2007 (Prag), S. 6f, 2
Abbildungen.
Der Roš Chodeš erschien auch während der sozialistischen Jahre, heute
bereits im 71. Jahr, und widerspiegelt die Meinung der offiziellen
Führungsgremien der jüdischen Gemeinden. Da es auch in einigen Läden
ausliegt, wird es wohl vor allem von Nichtjuden gelesen. Die Auflage lag im Jahr
2001 bei 2300, wovon 300 an die jüdischen Gemeinden der Slowakei gingen. Neuere
Zahlen liegen uns nicht vor.