Der Dritte Weg und seine Desillusionierung 

Ota Šik, der führende tschechische Wirtschaftsreformer von 1968, rückblickend über Taktik und tatsächliche Ziele im "Prager Frühling" 
Vollständige Wiedergabe eines Kurzinterviews mit Ota Šik, abgedruckt in der tschechischen Tageszeitung "Mladá Fronta", Praha, Jgg. 46, Nr. 178, 2. August 1990, S. 1-2, mit einem s/w-Foto. Faksimilé des Originalartikels. 
Übersetzung aus dem Tschechischen: © Bianca Lipanska, 2007

(S. 1, siehe auch Abb. links; anklickbar):

„Ich war immer davon überzeugt, dass die einzige Lösung für uns ein vollblütiger Markt des kapitalistischen Typs ist", teilte gestern Professor Ota Šik im Verlagshaus Mladá Fronta mit. Dort wurden ihm die Autorenexemplare seiner Biographie überreicht. Das Interview, welches er uns danach ermöglichte, finden Sie auf Seite 2.



(
S. 2:)
Über den Weg der Erkenntnis.
Ein Gespräch mit Ota Šik über sein Leben anlässlich der Veröffentlichung seiner Biografie

Als im Dezember letzten Jahres der Protagonist der wirtschaftlichen Reformen der sechziger Jahren Ota Šik aus der Schweiz geflogen kam, widmete er einen seiner ersten Besuche dem Verlagshaus Mladá Fronta, welchem er sein Buch mit seinen Erinnerungen "Jarni probuzeni – Iluze a skutečnost" (Frühlings Erwachen – Illusionen und Realität) anbot. Gestern kam er wieder im Verlagshaus vorbei – um sich die Autorenausgaben seiner Biografie abzuholen, deren Satzung Mladá Fronta von der ursprünglichen, Schweizer Ausgabe übernommen hatte.

„Nach vierundzwanzig Jahren erscheint in Prag wieder ein Buch von mir," seufzte Professor Šik. "Eigentlich habe ich mich schon im November entschieden, es der Mladá Fronta anzubieten. Inspiriert wurde ich durch die Schnelligkeit, in der sich die Redakteure ihrer Tageszeitung schon in den ersten Tagen der Revolution mit mir in Kontakt setzten. Mladá Fronta war somit die einzige offizielle Tageszeitung, die ein Interview mit mir veröffentlichte. Mit meinen Erinnerungen wollte ich vor allem und so schnell wie möglich die jüngere Generation der Tschechoslowaken ansprechen. Aber auch vielen Älteren wird heute gar nicht bewusst, dass gerade die Reformökonomen in der Zeit des Prager Frühlings viel radikalere Vorstellungen über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen hatten, als Dubček und andere Mitglieder des Politbüros. Schon damals waren die Einführung einer Marktwirtschaft, die vollkommene Liberalisierung der Preise, des Auslandhandels, die Zerstörung des Monopols von Unternehmen unsere Ziele. Den Weg zur Konvertibilität unserer Währung habe ich damals auf fünf bis sieben Jahre geschätzt."


Heute wird Ihnen allerdings vor allem von jungen Experten vorgeworfen, dass Sie einen dritten Weg einschlugen, ein zum Leben untaugliches Hybrid der geplanten Marktwirtschaft.


„Sehen Sie, wir konnten damals nicht alle unsere Ziele voll präsentieren. Gerade in meinen Erinnerungen beschreibe ich unsere Kämpfe mit Antonín Novotný über die Reformen, die hinter der Bühne vonstatten gingen. Aber auch für viele Reformkommunisten war nur der Gedanke an eine Erweiterung des Privateigentums oder an gemeinsame Unternehmen mit kapitalistischen Firmen eine Todsünde. Also war auch der dritte Weg ein verschleierndes Manöver. Schon damals war ich davon überzeugt, dass die einzige Lösung für uns ein vollblutiger Markt kapitalistischer Art ist. Und heute, nachdem ich zwanzig Jahre im Westen gelebt habe, zweifle ich nicht im Geringsten daran.


Trotz allem hat kürzlich einer der Teilnehmer der Polemik in der Zeitung Hospodářske Noviny über Sie geschrieben, dass sie immer noch im Kerker ihrer ideologischen Irrtümer aus den sechziger Jahren leben.

„Wissen Sie, im Westen habe ich noch etwas gelernt: eine sachliche und seriöse wissenschaftliche Polemik. Nur in der Diskussion über die gegenwärtigen Reformprogramme der Regierung zeigen sich bei einigen dieser Verteidiger Tendenzen, dass man jeden Gegner als irreführenden Menschen bezeichnen sollte, der uns von dem Weg zum erhofften Markt wegführt. Nach 1968 wurde ich von den sozialistischen Normalisatoren zum Schädling erklärt, der die sozialistische Gesellschaft in den Schoß des verräterischen Kapitalismus ziehen wollte. Heute bezeichnen mich einige Reformatoren, man wundere sich nicht, als Verteidiger des Sozialismus. Ist das nicht ein wenig tragikomisch?"

Er lachte über seine Mittagsthesen und verabschiedete sich schnell. Ich schlug sein Buch auf, das schon Ende August in den Buchhandlungen zu finden sein wird. Nein, auf keinen Fall sollten wir die Meinungen und Lebenserfahrung der Menschen ignorieren, die den schwierigen Weg der Erkenntnis durchgemacht haben.

(Autor des Artikels/ Interviewer:) Jiří Leschtina








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