Welly Hempel ist tot
   



Welly Hempel 2006 mit Freunden in ihrem Zimmer
(Seniorenanlage Langburkersdorf)
© Foto Ute Näser
Arg gesträubt hat sich Welly, im Hinterhermsdorf des zweiten Kriegsjahrs 1915 auf diese Welt zu kommen. Nachdem die Mutter drei Tage zuhause in schmerzhaften Wehen gelegen hatte, rief der Vater den Arzt Dr. Rösler aus dem böhmischen Nixdorf. Der Medikus verhalf dann Welly mit einer Zangengeburt ans Tageslicht. Aber das Kind blieb leblos. Da fragte der Geburtshelfer die Eltern, wie viele Kinder sie bereits besäßen. Als er hörte, dass Welly das erste sein sollte, begann er die Frischgeborene geduldig zu bearbeiten, herumzukollern und mit Klapsen zu traktieren. Nach zwei Stunden habe Welly endlich ihren ersten Laut von sich gegeben. 
Welly verlebte als Einzelkind eine unbeschwerte Kindheit in der sächsisch-böhmischen Grenzregion der Hinteren Sächsischen Schweiz. Acht Jahre lang besuchte sie hier die Schule. 

Zwei Begebenheiten aus ihrer Kindheit erzählte mir Welly vor ihrem neunzigsten Geburtstag. Schon immer waren im Böhmischen einige Produkte billiger als in Deutschland, andere waren eh nur in Böhmen zu haben. Salz, Zucker, Knackwürstchen, Tabak, Zigaretten und Alkohol hießen die begehrten Dinge. Und Lackschuhe gehörten auch dazu... Es war 1927, da kaufte die 12jährige Welly einmal in der Tschechoslowakei ein Paar des begehrten Schuhwerks und wollte es an den Füßen nach Hause schmuggeln. Am Schlagbaum aber verhielt sie sich nicht kaltblütig genug und gestand nach der ersten Fragerei durch den Finanzer (wie man die böhmischen Zollbeamten nannte) den Kauf der Schuhe ein. Das gab zwar ein großes Theater, doch durfte sie letztendlich, nachdem der Vater herbeigerufen worden war, ihre Erwerbung behalten.

Der Vater, Ewald Barthel, ein Waldarbeiter, blieb in der kalten Jahreszeit ohne Arbeit und musste „Stempeln gehen“. Im Winter bekam er wöchentlich 9 Mark Unterstützung vom Amt, was damals kaum zum Leben reichte. Also "blümelte" die Familie nebenbei (Blümeln war der Ausdruck für die Fertigung künstlicher Blumen in Heimarbeit). Manchmal kam eine Kontrolle, um zu prüfen, ob Vater einem Nebenerwerb nachging. Aber die "Dorfzeitung" war schneller: „Seht euch vor, Kontrolle kommt!“ Nur so kam die Familie in den 20er Jahren über die Runden. 

Nach der Ausschulung verdingte sich Welly als Magd beim Bauern. Sie lernte die Arbeit auf dem Feld, das Melken der Kühe und alles, was es auf einem Bauerngut zu tun gab. Sehen wir von ihrem letzten Lebensjahr ab - sie wohnte vor ihrem Tod in einer Seniorenanlage in Langburkersdorf -, hat sie den ganzen Lebtag in ihrem Heimatort Hinterhermsdorf zugebracht. Mit Ausnahme von zwei Jahren in Dresden: 1932/33, war sie dort als Dienstmädchen "in Stellung".

1933 erwarben die Eltern das jetzt noch der Familie gehörende Umgebindehaus im Dorf. Als Welly 16 war, lernte sie den Waldarbeiter Walter kennen, 1939 heirateten die beiden. Die richtige Wahl war es wohl nicht, wie sie später erkannte. Denn bis zu seinem Tod 1989 hat Walter, der gerne mal einen hob, ihr das Leben nicht gerade leicht gemacht. 

Irgendwann vor dem zweiten Weltkrieg wechselte sie beruflich in das Gaststättengewerbe. Sie ging als Bedienung, - zunächst in der "Buchenparkhalle", die damals eine Imbissstube war, später dann im "Erbgericht". Aber immer nur in der Sommersaison und zum Wochenendtanz. Im Winter half sie der Mutter bei der Heimarbeit. Auch nach dem Krieg und zu DDR-Zeiten blieb sie der Gastronomie treu. 

1949 kam ihr Sohn Frank zur Welt, ihr einziges Kind. Walter wollte, dass der Junge Maurer wird, aber Frank zog es in die EDV. Die neuen Technologien müssen den Jungen begeistert haben. Ein Lehrer vermittelte 1964 bei Robotron in Radeberg eine Lehrstelle in der Datenverarbeitung. Als der Lehrer dann Mitte der 70er Jahre mit seinen "Jungen Historikern" Recherchen in der Gemeinde anzustellen begann, half Welly, wo sie konnte. Aus Dankbarkeit, wie sie sagte. 

1975 ging sie an ihrem 60. Geburtstag in den verdienten Ruhestand, zumal ihr seit anderthalb Jahrzehnten ein Beinleiden arg zu schaffen machte. Zuletzt lebte sie von einer schmalen Rente von 331 Euro.

Nicht nur, dass Welly den Spurensuchern und der Gruppe Grenzlos bis zu ihrem Tode treu blieb, sie war bis zuletzt geistig vollkommen rege. Ja, manchem Zeitgenossen wird sie wohl zu helle gewesen sein. Mit ihrem Mutterwitz, mit ihrer Munterkeit und mit manch provokanter Äußerung hat sie noch jeden in ihren Bann gezogen oder verblüfft. Je nachdem. Welly ließ sich nie die Butter vom Brot nehmen.  
Es hatte keineswegs etwas Altkluges oder Banales, wenn Welly zum Schluss einer Unterhaltung sagte: „Naja, René, für irgend etwas wird es schon gut sein.“ Ihr Blick hatte dann etwas Hintergründiges, Schelmisches. Ein Körnchen Ironie lag darin. Mich hat das jedes Mal aufs neue zum Grübeln gebracht. Auch jetzt, am Ende meiner Abschiedsrede, würde sie das sagen. Ganz gewiss. "Für irgend etwas wird es schon gut sein, deine Rede, René." 

Nun ist sie tot. Das älteste Mitglied der Gruppe Grenzlos, Welly Hempel, ist am 30. März 2007 im Sebnitzer Krankenhaus im Alter von 91 Jahren  verstorben. 
Leb wohl, Welly.

René Senenko