Zwei Bürgermeisterkarrieren in Deutschland
im Spiegel von Dokumenten und Auskünften

In unserer Dokumentation stehen zwei Männer im Mittelpunkt. Zum einen handelt es sich um den 1907 geborenen Zimmermann und Hochbautechniker Gerhard Thiede. Der andere ist der sieben Jahre ältere Verwaltungsbeamte Walter Hageneier. Als Hageneier sich 1930 erfolgreich um die Bürgermeisterstelle in dem 4500-Einwohner-Städtchen Zörbig im Industriegebiet um Bitterfeld, Wolfen und Leuna bewarb, gründete Gerhard Thiede dort gerade die Ortsgruppe der NSDAP. Beruflich war Thiede bis 1937 in Halle tätig; verheiratet war er seit 1929 mit der gleichaltrigen Marianne Thiede, geborene Friedrich; drei Kinder hatten sie. Im Gemeinderat vertrat Thiede die NSDAP.
Walter Hageneier und seine Frau Elsa hingegen gehörten der SPD an. Elsa Hageneier war SPD-Abgeordnete im Gemeinderat von Zörbig. Auch gründete und leitete sie während der Amtszeit ihres Mannes in Zörbig die Arbeiterwohlfahrt. Vier Kinder gingen aus der Ehe hervor; zuerst, 1927, kamen  die Zwillingstöchter Karin und Sonja zur Welt. Sonja (verh. Roesink) war es auch, die gemeinsam mit ihrem Sohn Martin Erler alle hier verwandten Dokumente in den letzten Jahren beschafft hat. Auf ihren Unterlagen beruht meine nachfolgende Darstellung. Sonja Roesinks Vater starb 1974 in Celle, ihre Mutter 1996. Gerhard Thiede lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1986 hochgeehrt in Markdorf am Bodensee.

Die Orthografie der wiedergebenen Dokumente folgt den Originalen. Auffällig ist dies besonders bei ss statt ß und bei der Kommasetzung. Nur in wenigen missverständlichen Fällen habe ich in eckigen Klammern Korrekturen markiert. Für ergänzende Informationen bin ich dankbar.
René Senenko; Hamburg im April 2015 

 

1979


Gerhard Thiede
mit Frau, 1979
   "Südkurier" (Tageszeitung; Konstanz, Region Bodensee) vom 13.6.1979
50 Jahre gemeinsamer Lebensweg. Gerhard Thiede und Frau feiern goldene Hochzeit.
[...] Nach der Schulzeit absolvierte Gerhard Thiede eine Zimmermannslehre, besuchte in Magdeburg und Zerbst die damalige Baugewerksschule und erfuhr hier die Ausbildung zum Hochbautechniker (entsprechend dem heutigen Bauingenieur). Von 1927 bis 1937 arbeitete Thiede auf seinem Beruf in Halle an der Saale. Während dieser Zeit wurde er in Zörbig in den Gemeinderat gewählt und zum 1. Beigeordneten bestellt.
Sein kommunalpolitisches und soziales Engagement und sein Bedürfnis, der Allgemeinheit zu dienen, ließ in ihm den Entschluss reifen, sich um eine Bürgermeisterstelle zu bewerben. So wurde er 1937 als Bürgermeister von Greppin (Kreis Bitterfeld) gewählt. 1943 schenkte ihm der Stadtrat der 20 000 Einwohner zählenden Stadt Eilenburg (Kreis Delitzsch, preußische Provinz Sachsen) das Vertrauen und wählte ihn zu ihrem Bürgermeister.
In den Wirren der Nachkriegszeit hatte die Familie Thiede schwere Jahre durchzustehen. Gerhard Thiede wurde 1945 von den Amerikanern interniert und kam so in das Gebiet der Bundesrepublik, während seine Frau mit den Kindern zunächst in Eilenburg zurückblieb. Nach vierjähriger Trennung kam die Familie in München wieder zusammen, wohin Gerhard Thiede nach seiner Entlassung zu seiner Schwester gekommen war. Schon am Tage nach seiner Entlassung trat Thiede in die Dienste der Münchner Baufirma von Dombaumeister Dr. Bannekämper ein, wo er als Bauleiter seinem Beruf nachging.

Nach der Wiederherstellung seiner Beamtenrechte in den Jahren 1955/56 bewarb sich Thiede 1957 als Bürgermeister von Markdorf, wurde zweimal mit großem Vertrauen bedacht und wirkte insgesamt 18 Jahre als Stadtoberhaupt in der Gehrenbergstadt, bis er 1975 mit über 68 Jahren in Ehren verabschiedet wurde. Bei Thiedes Verabschiedung wurden seine Verdienste um die aufstrebende Stadt Markdorf vielfach gewürdigt. Als erster erhielt Gerhard Thiede den goldenen Ehrenring der Stadt Markdorf verliehen.
Als Thiede 1957 sein Amt als Bürgermeister antrat, zählte Markdorf 4000 Einwohner; bei seiner Pensionierung waren es deren 10 000 (einschließlich der Eingemeindungen). Diese Zahlen spiegeln deutlich wieder, in welch ungewöhnlicher Expansionsphase Thiede die Geschicke dieser Stadt leitete, deren Entwicklung untrennbar mit seinem Namen verbunden bleibt.
Zum Ehrentag der goldenen Hochzeit gelten ihm und seiner Frau herzliche Glückwünsche, verbunden mit der Hoffnung auf einen weiteren Lebensabend bei Gesundheit und Zufriedenheit in dieser Stadt, die ihm so sehr ans Herz gewachsen ist.
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1986


Gerhard Thiede
vor seinem Tod
(Foto Schwäbische Zeitung)
   "Südkurier" (Konstanz, Region Bodensee), Ausgabe aus dem Jahr 1986 (undatiert; G. Thiede starb am 24.9.1986)
Nach dem Tod des früheren Bürgermeisters:
Abschied von außergewöhnlichem Mann. Zahlreiche Trauernde geben Gerhard Thiede das letzte Geleit
Markdorf. 18 Jahre lang hat er sich engagiert für das Wohl der Stadt Markdorf eingesetzt, den Grundstein für das gedeihliche Wachsen der Stadt gelegt, und im 79. Lebensjahr starb er nach einer kurzen schweren Krankheit - der frühere Bürgermeister Gerhard Thiede. Im Gedenken an einen außergewöhnlich engagierten Mann gaben ihm am Montag zahlreiche Trauernde das letzte Geleit auf dem Friedhof in Markdorf, wo Gerhard Thiede seine letzte Heimstatt fand. Bewegende Worte fand Pfarrer Däublin in der Einsegnungshalle für einen Mann, der sich in verdienstvoller Weise für "seine" Stadt Markdorf eingesetzt hatte. Auch aus den Ansprachen derer, die am Grabe einige letzte Worte an ihn richteten, ging hervor, welch außergewöhnlichen Menschen die Stadt mit Gerhard Thiede verloren hat. [...] Während seiner Amtszeit ... habe die Stadt eine ungewöhnliche Expansion erlebt. [...] Besonders zu erwähnen sie auch der Bau des Bildungszentrums, für den sich Gerhard Thiede stets eingesetzt habe, so Eugen Baur. Er hob hervor, daß Gerhard Thiede stets ein Mann der Gerechtigkeit und des Ausgleichs gewesen sei. Sein Bestreben sei das Wohl der Bürger gewesen. [...] Der Bürgermeister der Partnerstadt Ensisheim im Elsaß, Luis Eglof, würdigte Thiede als einen guten Europäer und Freund der Stadt Ensisheim. Er erinnerte daran, dass Bürgermeister Thiede und Bürgermeister Rapp die Initiatoren der Städtepartnerschaft waren. Die Stadt Ensisheim habe Thiede daher auch die Ehrenbürgerschaft verliehen. [...] Kurt Rauch als Vorsitzender Sportclubs Markdorf hob hervor, daß Thiede ein großer Förderer des Sports gewesen sei [...] Über den Tod hinaus zeigte Gerhard Thiede sein soziales Engagement: Statt Blumen und Kränze wünschte er eine Spende für die Sozialstation Markdorf.
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2012
Sonja Roesink, geb. Hageneier, Tochter des ehemaligen Zörbiger Bürgermeisters Walter Hageneier, im Jahr 1933 sechs Jahre alt. Brief an Frau Kandler, Archivarin in Mardorf, vom 27.7.2012, nachdem sie von Frau Kandler die beiden obigen Artikel erhalten und gelesen hatte
[...] Ihre Sendung hat mich sehr erstaunt, d.h. der Inhalt der Zeitungsartikel ist für mich überraschend und ich kann deren Aussagen mit den Erinnerungen, die ich an G. Thiede habe, überhaupt nicht in Einklang bringen. Als Sechsjährige habe ich aus einem Fenster unserer Dienstwohnung in Zörbig die Misshandlungen meines Vaters, unter denen er über den Marktplatz getrieben wurde, mitansehen müssen. Ich war dabei, als einer der SA-Männer, die in unsere Wohnung eingedrungen waren, meiner Mutter eine Pistole auf die Brust setzte – sie sollte verraten, wo sich mein Vater aufhielt.


Rückblende in das Jahr 1933

Auskunft Heimatmuseum Zörbig
MuR Brigitta Weber, Museumsleiterin, 10.11.2009:
Der Bürgermeister Weps kündigte im Sommer 1930 aus Altersgründen seinen Rücktritt an. Daraufhin erfolgte die Ausschreibung der Bürgermeisterstelle in den entsprechenden amtlichen Journalen und es bewarben sich 177 Kandidaten um diese Stelle. 7 davon wurden von den Stadtverordneten wurden von den Stadtverordneten zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Während viele von ihnen auf die schwierige politische Lage dieser Zeit eingingen, sprach der Kandidat Hageneier kommunale Probleme an, z.B. die Notwendigkeit einer Kanalisation [...] Am 7. November 1930 wird der neue Bürgermeister in der Sitzung der Stadtverordneten in Anwesenheit des Bitterfelder Landrats Stammer in sein Amt eingeführt und ihm die Ernennungsurkunde überreicht [...] und am 10. November leitete er seine erste Sitzung. Stadtverordneter war zu dieser Zeit als gewählter Vertreter der SPD neben Döbler auch Rudolf Dinsel. Das Jahresgehalt des Bürgermeisters betrug mit Zuschlägen rd. 6.228,-- Reichsmark. Über die Jahre der Amtstätigkeit Walter Hageneiers von 1930 – 1933 liegen noch keine Chronik-Berichte vor und konnten im Zusammenhang mit Ihrer Anfrage jetzt auch nicht erstellt werden. lediglich die ersten Wochen des Jahres 1933 hat Herr Schaaff recherchiert.
Die letzte Sitzung der Stadtverordneten vor dem 30. Januar 1933 am 24. Januar endet in einem politischen Streit. Nach der Übernahme der politischen Macht durch die Nationalsozialisten kam es dann zu den entwürdigenden Ereignissen und zur Absetzung des Bürgermeisters Walter Hageneier. Am 1. April 1933 erschien im „Zörbiger Boten“, der hiesigen Lokalzeitung, eine Anordnung über die Absetzung von Bürgermeistern und die Einsetzung neuer Bürgermeister. [...] Gleichzeitig tritt der Schneidermeister Karl Kusche als Bürgermeister-Stellvertreter auf. Am 3. April wird im Zörbiger Boten berichtet, dass am 1. April bei den Mitgliedern der SPD Haussuchungen durchgeführt wurden.
Nach Neuwahlen Ende März/ Anfang April fand am 11. April die erste Sitzung des neugewählten Stadtverordnetenkollegiums statt, noch sind von der SPD Dinsel und Döbler im Stadtrat. Bürgermeister-Stellvertreter ist Herr Kusche. In der Stadtverordnetensitzung am 30. Mai 1933 fordert der Stadtverordnete Thiede (von der NSDAP) die Stadtverordneten auf, „des gefallenen Volkshelden Albert Leo Schlageter zu gedenken. Die Stadtverordneten erheben sich von den Plätzen außer den Stadtverordneten der sozialdemokratischen Fraktion [unter ihnen Elsa Hageneier. Anm. von Sonja R.]. Sie werden deshalb wegen flegelhaften Benehmens aus dem Saal gewiesen. Die Stadtverordneten Dinsel und Döbler werden grober Ungebühr für 7 Sitzungen bzw. 6 Monate von den Stadtverordnetenversammlungen ausgeschlossen“.
Die SPD-Mitglieder [Dinsel und Döbler; Walter Hageneier saß in Halle in Haft. Anm. von Sonja R.] wurden offensichtlich gleich im Mai 1933 verhaftet und in das Konzentrationslager Lichtenburg verbracht. Rudolf Dinsel hat dem Heimatmuseum in den 60er Jahren einen Liedtext über die Lichtenburger Zeit, auch ein dort von ihm geschnitztes Holzmesser übergeben. [...]






 

 

 

Elsa und Walter Hageneier
1932



Nachricht im "Bitterfelder Tageblatt" Nr. 133, 4.7.1933
Im Laufe des gestrigen Montags wurden in Zörbig weitere Personen in Schutzhaft genommen, u.a. auch der frühere SPD-Bürgermeister Hageneier, der seiner Zeit durch die Lauheit der Bürgerlichen zum Stadtoberhaupt gewählt wurde. Es wurde ihm ein Schild in die Hände gedrückt mit der Aufschrift „Der Schildbürgermeister von Zörbig“, mit dem er durch mehrere Straßen geführt wurde.


SED – Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Ortsgruppe Zörbig. Brief vom 27.2.1947

An die SED-Ortsgruppe Greppin
Werte Genossen!
Betrifft: Angaben über Gerhard Thiede
Gerhard Thiede war seit dem 1.9.1930 Mitglied der NSDAP. Von diesem Zeitpunkt an war er der Organisator nicht nur der Nazipartei, sondern auch allen ihren Gliederungen wie SA SS NSKK usw. Massgeblich [beteiligt] war er bei der Terrorisierung der Bevölkerung und der Antifaschisten schon vor 1933. Als Ortsgruppenleiter liess er bei der Machtergreifung alle KPD und SPD Funktionäre verhaften und in KZ überführen. Der damalige Bürgermeister der Stadt Zörbig Hageneier (Parteizugehöriger der SPD) wurde auf Befehl von G. Thiede mit einem Schild um den Hals gehängt unter Misshandlungen durch die Strassen geführt. Thiede war derjenige, der die Hitlerfaschistischen Massnahmen 100%ig bis zu seinem Abgang nach Greppin rücksichtslos durchgeführt hat. Wir sind der Ansicht, dass Thiede ein Aktivist ist, der in unserem Orte an erster Stelle steht. [Unterschrift]


Handschriftlicher Bericht von Walther Voigt, undatiert (1947 oder 1948)
Einige Tage nach dem 30.01.1933 wurden in Zörbig, meinem damaligen Wohnort, Aktionen gegen Personen durchgeführt, so auch gegen den damaligen Bürgermeister W. Hageneier. Durch Ortsgr.Leiter Gerhard Thiede erhielt ich den Befehl, mich an diesen Aktionen zu beteiligen, was ich jedoch ablehnte, da dies gegen mein Rechtsempfinden verstieß.
Es kam daher zu sehr erregten Aussprachen zwischen mir und Thiede. Auf meine Warnung an Thiede, derartige gemeine Racheakte zu unterlassen, da ich anderseits gegen ihn Beschwerde führen würde, bekam ich zur Antwort, daß der Kreisleiter alles decken würde und er sich hier erlauben könne was er wolle, und wenn ich nicht aufhören würde seinen Maßnahmen entgegen zu arbeiten, wolle er mich ins KZ bringen. Ich verblieb jedoch auf meinem Standpunkt und bekam im April eine Vorladung zum Parteigericht des Kreises Bitterfeld, das in Bitterfeld im Rheinischen Hof tagte. Dort stand ich außer dem Ortsgr.Leiter Thiede gleichzeitig dem Kreisleiter Karrassek, sowie SS-Sturmbannführer Wilhelm Mühling und SS Sturmführer Schoffel Bitterfeld gegenüber, die mit den unglaublichsten Lügen [und] Verdrehungen meinen Ausschluß aus der Partei erzielen wollten um mich endlich „KZ fertig“ zu machen. Das von mir inzwischen gesammelte und zum Teil urkundlich [beglaubigte] in meinem Besitz befindliche Material über Veruntreuungen und Verfehlungen meiner Widersacher bewirkte, daß mein Ausschluß aus der Partei nicht durchgeführt wurde, jedoch folgte meine Ausstoßung aus der SS, der ich bis dahin angehört hatte. Nach Jahresfrist wurde ein weiteres Parteigerichtsverfahren gegen mich eingeleitet. Auch zu diesem konnte ich mich rechtzeitig mit Gegenmaterial wappnen, da ich bereits 14 Tage vor Beginn der Sitzung von diesem neuerlichen Gericht erfuhr, als einige Bekannte mir im Vertrauen erzählten, daß sie von der Ortsgruppe gewarnt worden seien mit mir zu sprechen oder zu verkehren, da ich in Kürze ins KZ gebracht würde. Auch in dieser zweiten Parteigerichtssitzung gelang es daher Thiede nicht, meinen Ausschluß aus der Partei herbeizuführen, was zu einer Unterbringung im KZ als Bedingung nötig gewesen wäre. Walther Voigt

 

Paul Körber: Handschriftliche Erklärung, undatiert (1947 oder 1948)
Ich bestätige hiermit, daß ich unseren ehemaligen Bürgermeister von Zörbig, Herrn Walter Hageneier seit dem Jahre 1929 kenne. Er und seine Frau Elsa Hageneier waren politisch in der Sozialdemokratischen Partei organisiert und sind bis zum Jahre 1933, als der Umschwung kam, sehr aktiv tätig gewesen. Frau Hageneier gründete in Zörbig die Arbeiter-Wohlfahrt, für welche sie sich mit ihrer ganzen Person einsetzte. Der Bürgermeister Hageneier hielt unter den Einwohnern im Auftrage der SPD des öfteren Schulungs- und Bildungsabende ab, welche immer gut besucht, und er auch verstand sein Vortragsthema in der Diskussion interessant zu gestalten. Bei der Bevölkerung, ob arm oder reich, war er sehr beliebt. Als der Umschwung 1933 kam, mußte er sein Bürgermeisteramt an die Nazis gezwungener Maßen abtreten. Am 3. Juli 1933 zwangen die Nazis, nachdem vorher alle Spitzenfunktionäre der SPD im Ort verhaftet waren, den Bürgermeister Hageneier mit einem Schild in der Hand durch die Straßen der Stadt zu ziehen, wo sie ihn mit Fußtritten und Schlägen traktierten. Auch seine Frau, welche von seiner Seite nicht wich, mußte sich üble Beleidigungen gefallen lassen, ja sogar in den Rinnstein wurde sie geworfen. Als am 4. Juli dasselbe Schauspiel noch einmal sollte vorgeführt werden, begab sich Herr Hageneier selbst in Schutzhaft. Im August 1933 wurde er auf freien Fuss gesetzt, nachdem er aus der Haft entlassen war. Noch im selben Jahr siedelte er nach Burgdorf bei Hannover über.
Ich selbst war bis zum Jahre 1933 1. Vorsitzender der SPD des Ortsvereins Zörbig und stand in steter Verbindung mit ihm. Ich habe sehr gut mit der Familie Hageneier gearbeitet. Ich versichere hiermit, meine Angaben wahrheitsgetreu niedergeschrieben zu haben. gez. Paul Körber

 

Gustav Tettolowski, "Zeugnis für die Entnazifizierung", 28. Juli 1948
Dies Zeugnis betrifft Herrn Dipl.Volkswirt Walter Hageneier in Hannover, Ritter-Brüning-Str. 12. Herrn Hageneier kenne ich seit August 1931, als er bereits etwa ¾ Jahr Bürgermeister der Stadt Zörbig (knapp 5000 Einwohner), Kreis Bitterfeld, war. Ich trat damals als Angestellter bei dieser Stadtverwaltung ein. Oktober 1932 wurde ich ins Beamtenverhältnis als leitender Bürobeamter (Inspektor) übernommen.
Zörbig zählte 1930/32 zu jenen preußischen Kleinstädten, die am stärksten unter der Wirtschaftskrise litten. Die reichhaltige Mittelindustrie am Ort brach zusammen. Hierdurch und dadurch, daß Zörbig Arbeiter-Wohnsitzgemeinde für Bitterfeld, Wolfen, Halle, Leuna u.a. war, stieg die örtliche Arbeitslosigkeit ins Kathastrophale und brachte sie prozentual mit an die Spitze in der Zahl der Erwerbslosen- und Wohlfahrts-Unterstützungsempfänger in Deutschland. Die städtischen Schulden überstiegen mit Zinseszinsen 1.000.000 RM, die Verwaltung war veraltet.
Herr Hageneier ging mit dem ernsten Eifer eines Mannes, der sein Meisterstück bauen will, an seine Aufgabe. Nicht nur allgemein, sondern auch in vernünftigen Gesprächen mit seinen politischen Gegnern – er war altes Mitglied der SPD – habe ich immer wieder seine herzgewinnende Art loben hören und Anerkennung seiner Befähigung und seines sachlichen, ausgleichenden Vorgehens vernommen. Nach meinem Urteil, und ich bin immerhin in Kommunalverwaltungen „aufgewachsen“, konnte sich Zörbig keinen besseren Bürgermeister wünschen. In unermüdlicher Tätigkeit, Reisen und Verhandlungen beim Kreis, bei der Regierung in Merseburg und in Berlin gelang es ihm, immer wieder Zuschüsse zu erwirken, die es ihm ermöglichten, die Unterstützungen auszuzahlen und die Finanzen der Stadt in Ordnung zu halten. In der ganzen Zeit haben in Zörbig, trotz der außerordentlichen Not, keinerlei Demonstrationen oder Unruhen stattgefunden, während es in Nachbarorten Tote und Verwundete gab. Durch sein Wirken und das seiner Frau, die die Arbeiter-Wohlfahrt mustergültig führte, gewann die örtliche SPD, was [s]eine Wahl zeigte, während seiner Regierung noch damals erheblich an Stimmen!
Folgendes erkläre ich an Eides statt: „Auch nach dem 30. Januar 1933 habe ich während unserer Zusammenarbeit nichts bemerkt, daß Herr Hageneier mit der NSDAP liebäugelte. In internen Gesprächen waren wir beide Gegner der NSDAP. Seine Frau ließ sich als Kreistagsabgeordnete der SPD aufstellen.
März oder April 1933 wurde Herr Hageneier von seinem Amt suspendiert. Er lebte – nach dem, was ich von ihm gewahr wurde – zurückgezogen, keineswegs provozierend. Eines Abends Anfang Juli 1933 wurde er, wie ich damals erfuhr, von einer Horde der NSDAP, wüst aus der Wohnung auf die Straße gezerrt. Ich habe dann selber gesehen und gehört, wie er von einem johlenden, uniformierten Trupp durch die Straßen geführt, wie er gestoßen, geschlagen, beschimpft wurde, wie er sich wehrte und sich weigerte, eine beschriebene Holztafel zu tragen. Ich habe gesehen, daß er in der Gefangenenzelle untergebracht wurde. Es ist mir damals erzählt worden, wie es ihm bei dem Umherführen gelang, sein künstliches Auge (Kriegsbeschädigung) herauszunehmen und es der Bevölkerung entgegenzuhalten. Auf etwaigen Vorhalt: Ich selber, überrascht, habe versucht, dies schändliche Treiben abzustoppen. Dabei erhielt ich die Gewißheit, daß es sich um eine gut vorbereitete Aktion des Ortsgruppenleiters Gerhard Thiede und engster Mitarbeiter handelte.
An dem Tage wurde auf dem Schützenplatz ein Fest gefeiert. Wie sehr der Vorfall die Gemüter erregte und Abscheu und Entsetzen hervorrief, zeigt mir der Umstand, daß damals der Platz fast unbesucht war. Auch sprachen mich viele Leute in diesem Sinne an.
Herr Hageneier wurde bald wieder in seine Wohnung entlassen, soviel ich weiß, mit Hausarrest. Am nächsten oder übernächsten Tage hörte ich, ich befand mich auf einem Spaziergang in der Gemarkung, daß vor der Stadt ein Lastwagen mit fremder SS. wartete. Später erfuhr ich von Polizeibeamten, daß SS. robust in die Hageneiersche Wohnung eingedrungen war, daß Herr Hageneier ihnen aber entkommen und sich auf der Polizeiwache melden konnte. Daß die wilde SS. sich nicht an ihrem Opfer vergreifen konnte, war nur der Standhaftigkeit eines Polizeibeamten zu verdanken, wie es mir damals ausführlich von diesem Polizeibeamten geschildert wurde. Ich bin der Meinung, daß es bei dieser 2. Aktion um das Leben Hageneiers ging. Herr Hageneier wurde nach wenigen Tagen abtransportiert. Nach Wochen wieder freigelassen, erhielt er Aufenthaltsverbot für Zörbig. Bis gegen Ende 1934 habe ich aus Gesprächen der an der ehrenamtlichen Verwaltung beteiligten NSDAP-Spitzen und aus ihren Verwaltungsanweisungen entnommen, daß man Gelegenheiten suchte und nutzte, Herrn Hageneier weiterhin herabzuwürdigen. Ich bemerkte oft Anzeichen, daß man mich in meinem Verhalten zu meinem ehemaligen Vorgesetzten streng zu beobachten willens war.“ [Unterschrift] Gustav Tettolowski; Beglaubigungsvermerke des Stadtdirektors der Stadt Helmstedt, 1948

 

 

 

Elsa, 1925   

 

 

Walter Hageneier
um 1933

 

Otto Meyer: "Politisches Leumundszeugnis", 10.8.1948
Herr Walter Hageneier, Celle, An der Leegde 6, war, soweit mir noch in Erinnerung, in der Zeit vom Sommer 1930 bis April 1933 in meiner Heimatstadt Zörbig, Kreis Bitterfeld, Bürgermeister. Ich arbeitete damals in dieser Zeit in der Stadtverwaltung Zörbig unter der Leitung des Herrn Hageneier als Verwaltungsangestellter. Mir ist Herr Walter Hageneier noch in guter Erinnerung. Zum Zwecke seiner politischen Entlastung stelle ich ihm das nachstehende Zeugnis aus:
Herr Walter Hageneier begann seine Bürgermeistertätigkeit in Zörbig im Jahre 1930, zu einer Zeit, als die Wirtschaftskrise in Deutschland schon recht spürbar geworden war. Wir zählten in meiner Heimatstadt mit 4500 Einwohnern 1930 mehrere Hundert Erwerbslose. Herr Hageneier gehörte der Sozialdemokratischen Partei an. Aus seiner politischen Einstellung heraus unterstützte und förderte er alle sozialen Einrichtungen der Stadt. Bei seinen Beamten und Angestellten war er beliebt. Er besaß das Vertrauen der Bevölkerung und war angesehen. Seine soziale Einstellung verschaffte allen Einwohnern die Möglichkeit, in ihren wirtschaftlichen Nöten und Sorgen den Bürgermeister aufzusuchen und sich bei ihm Rat und Beistand zu holen. Und Herr Bürgermeister Hageneier hatte geholfen wo zu helfen war.
Als im April 1933 die Nationalsozialisten gewaltsam in die Stadtverwaltung eingedrungen waren, war er von diesen in unmenschlicher Weise mißhandelt worden. Die Bevölkerung Zörbigs hatte hierbei Partei für ihren Bürgermeister ergriffen. Seine Stellung als Bürgermeister von Zörbig war damit zu Ende.
Ich gebe dieses Zeugnis nach bestem Wissen und Gewissen ab.
Salzgitter, den 10. August 1948 / Hasenspringweg 25 / [Unterschrift] Otto Meyer, Stadtinspektor, Leiter des Rechnungsprüfungsamtes der Stadt Watenstadt-Salzgitter.

 

Sonja Roesink, Brief an R. Senenko (Willi.-Bredel-Gesellschaft), 31.7.2014
[...] Meine Zwillingsschwester Karin erzählt noch heute, dass ich später noch lange jede Nacht aufstand und im ganzen Hause meinen Vater suchte. Sie war übrigens nicht daheim und auch nicht unser „großer“ Bruder (der kleine war noch nicht geboren), als das alles geschah im Juli 33. Ich war in diesen Tagen „Einzelkind“ und meine Mutter hatte andere Sorgen als mich zu trösten. Frau Dinsel, deren Mann auch abgeholt worden war, nahm mich zu sich. Mutti fuhr nach Berlin in der Hoffnung, die Männer freizubekommen - - - von der Gestapo! Das glückte natürlich nicht. [...] Da mein Vater nach seiner Entlassung Berufsverbot hatte, hatte er außer der kleinen Kriegsbeschädigtenrente (1. Weltkrieg) kaum oder kein (?) Einkommen. Opa zahlte seiner Tochter vorzeitig die Erbschaft aus und es wurde eine Obstplantage gekauft. Mit Kuh, Schweinen, Hühnern und Gemüseanbau. Lief nicht so gut. Wir Kinder mussten auch helfen. Mutter gab Zeichen- und Haushaltskurse: bis zu sechs junge Mädchen lebten hierfür im Haus. Essen war genug da, wir waren ziemlich autark, es wurde sogar gebuttert! Mein Vater leerte die Jauchegrube (keine Kanalisation, einsame Lage!). Aber ob das Geld, das die „Pensionärinnen“ für den Unterricht zahlten, die Kosten für ihre Unterbringung gedeckt hat? Ob es einen Vorschuss gab? Mein Vater sehnte sich nach seinem Beruf, er war kein Landwirt. [...]

 

Halbherzige Aufklärung 2013
Schwäbische Zeitung vom 21.3.2013
Karrierestart in der NS-Zeit. Markdorfs Ex-Bürgermeister Gerhard Thiede war schon im Dritten Reich Schultes
Von Christian Gerards. Es ist die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte gewesen, die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945. Dieser Tage jährt sich zum 80. Mal die Anordnung des NS-Regimes, die Stadt- und Gemeinderäte aufzulösen und die Gemeinderäte vom Bürgermeister einsetzen zu lassen. ...
Der vollständige Artikel | Kommentar in derselben Ausgabe (PDF)

   Anmerkung: Nachdem Sonja Roesink dem Journalisten Christian Gerards die Unterlagen über ihre bisherigen Recherchen zu Thiede übermittelt hatte, veröffentlichte dieser in der Schwäbischen Zeitung vom 21.3.2013 den vorstehenden Artikel. Vergleicht man das Material, das Sonja Roesink dem Verfasser übersandt hat, mit seinem Artikel, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Journalist sehr nachsichtig, wenn nicht sogar ungläubig auf die kriminelle Vergangenheit von Exbürgermeister Thiede schaut, denn Thiede habe doch - so Gerards - „große Verdienste an der Entwicklung der Gehrenbergstadt“ (Markdorf). Zwar räumt Gerards ein, dass Thiede seine NSDAP-Mitgliedschaft für seine Karriere genutzt habe und bis 1937 in Zörbig Nazifunktionenn innehatte, unterschlägt aber die wichtigsten Zeugenaussagen über Thiedes Rolle bei den Vorgängen, bei denen der SPD-Bürgermeister Hageneier aus seiner Dienstwohnung gejagt und mit einem Schild durch die Straßen gejagt wurde. Einzig zitiert er ein Schreiben der SED-Ortsgruppe aus dem Jahr 1947 und spekuliert offen damit, die Leser würden schon einzuschätzen wissen, was von einem SED-Dokument zu halten sei. Den Bericht von Voigt, der Thiede am meisten belastet, präsentiert Gerards so, dass er nicht direkt in Beziehung zu der brutalen Vertreibung Hageneiers aus dem Amt steht. Den dritten Zeugenbericht, von Tettolowski (siehe oben!), unterschlägt Gerards ganz. In seinem - in gleicher Ausgabe abgedruckten - Kommentar setzt Gerards noch eins drauf: „Die Generation derer, die die NS-Zeit hautnah erlebt haben, stirbt langsam aus. Gerade aus diesem Grund wird die Arbeit mit Quellen aus Archiven immer wichtiger. Sie zeigen allerdings nur einen kleinen Ausschnitt, gerade auch, weil (...) viele Akten vernichtet worden sind (...). Von daher hat der Archivbestand zur Amtsführung von Thiede nur eine geringe Aussagekraft. Thiede war politischer Mitläufer, er hat das NS-System aber für seine Bürgermeister-Karriere genutzt.“
Kein Wort darüber, dass es Sonja Roesink gar nicht um die Amtsführung Thiedes geht, sondern um dessen brutales Vorgehen gegen politische Kontrahenten, insb. gegen Hageneier. Gerards tut so, als ob er sich um Aufklärung bemühte, schützt aber in Wahrheit Markdorfs ehemaligen Bürgermeister vor dessen eigener übler Vergangenheit. Der ganze Artikel läuft auf Täterschutz hinaus. Wider besseres Wissen stellt Gerards über Thiedes Jagd auf Hageneier abschließend fest: „Indes, in den noch vorhandenen archivalischen Unterlagen ist nichts darüber zu finden, ob und wie Thiede involviert war.“


    

 

Sonja Roesink im Jahr 2009
vor dem Rathaus in Zörbig


Andreas Flegel, Leiter des Stadtmuseums Eilenburg, Brief an Sonja Roesink vom 8.5.2013 (Auszug)
Ich hatte Ihnen ja einmal am Telefon gesagt, dass ich vom Stadtarchiv Markdorf Teile der Personalakte Thiedes bekommen hatte, die Gerards trotz verschiedener Versuche in Markdorf nicht einsehen durfte. Darin sind aber beispielsweise Leumundszeugnisse für Thiede enthalten, die er eingeholt hat, als er sich in den 50er Jahren als Bürgermeister bewarb. Wenn man diese Zeugnisse seiner ehemaligen Vorgesetzten und Amtskollegen, wie z.B. des Landrats liest, meint man es gibt auf dieser Erde keinen integreren Mann als eben diesen Thiede. Ein Mann ohne Fehl und Tadel.

 

Wird fortgesetzt. Zusammen mit Sonja Roesink will die Willi-Bredel-Gesellschaft Geschichtswerkstatt e.V. (Hamburg) die Aufhebung der Ehrenbürgerschaft Thiedes in Markdorfs Partnerstadt Ensisheim im Elsass anstreben


Folgende Einrichtungen stellten Sonja Roesink und ihrem Sohn Dokumente zur Verfügung und erteilten Auskunft:
Bundesarchiv Berlin
Heimatmuseum Zörbig
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Merseburg
Stadtarchiv Bitterfeld-Wolfen
Stadtarchiv Markdorf
Stadtmuseum Eilenburg

 

Redaktion dieser Seite:
René Senenko, Willi-Bredel-Gesellschaft Geschichtswerkstatt e.V. Hamburg
(c) April 2015