Ausgesperrt vor 100 Jahren
Zittau war überall! 
(Beitrag veröffentlicht am 24. November 2010)

Vor 100 Jahren streikten die Bauarbeiter. Deutschlandweit. Was war passiert? 

Seit der Gründerzeit hatten sich viele deutsche Städte ausgedehnt und ihre Vororte eingemeindet. Damit waren aber auch die Wege vieler Arbeiter zu ihren Arbeitsstätten sehr lang und zeitraubend geworden. Dennoch mussten sie wie früher 10 bis 14 Stunden täglich oder länger arbeiten. Einen öffentlichen Nahverkehr gab es nicht oder er war für Arbeiter nicht erschwinglich. Im Baugewerbe "leben viele Tausende unserer Kollegen in äußerst ärmlichen Verhältnissen", schrieben die Gewerkschaften in ihren Denkschriften. "Sie leiden an Unterernährung, wohnen schlecht und gehen darum früh von der Welt." Die harten Arbeitsbedingungen auf den Baustellen und deren häufiger Ortswechsel taten ein übriges. Immerhin hatten die Gewerkschaften bis 1907 erreicht, dass im Baugewerbe 40% aller Arbeiter nach einem Tarifvertrag entlohnt wurden. Als im April 1910 diese Vereinbarung auslief, wollten es die Arbeitgeberverbände auf eine Kraftprobe ankommen lassen. Wenn sie sich  schon auf die verhassten Tarifverträge einlassen mussten, warum nicht den Spieß umdrehen und diese nach den eigenen Vorgaben gestalten? Doch die Gewerkschaften bestanden auf Arbeitszeitverkürzungen und verlangten obendrein Lohnerhöhungen. Da stellte der Arbeitgeberbund auf stur und ließ ab 15. April per Weisung alle Baubetriebe der angeschlossenen Unternehmervereinigungen schließen. Die flächendeckende totale Aussperrung! 



Auf Betrachter von heute mögen die Zittauer Postkarten etwas stupide wirken. Doch wollte der Deutsche Maurerverband, der sie herausgab, nicht mit kämpferischer Pose imponieren, sondern mit diesen Karten die Geschlossenheit und Disziplin der Streikenden demonstrieren. Darauf kam es an. In den Augen vieler Zeitgenossen waren Streiks bis dahin so etwas wie verbrecherische Tumulte, die Streikenden galten als Aufrührer, die vor Gericht gehörten. Hatte nicht Wilhelm II. noch einige Jahre zuvor gefordert, dass jeder, zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus zu bestrafen sei? 

Wie uns Steffen Gärtner vom Zittauer Geschichts- und Museumsverein mitteilte, sei auf dem oberen Foto in der Bildmitte im Hintergrund stehend der Maurer Emil Müller zu sehen. Müller war Sozialdemokrat und engagierte sich im Bauarbeiterverband. Im Sommer 1911 starb er 36jährig an Lungentuberkulose. Er war der Vater des Oberlausitzer Landschaftsmalers Willy Müller-Lückendorf (1905-1969). 


Feldwache streikender Bauarbeiter in Zittau
Bildquelle: DHM.de

Die Aussperrung gelang zwar nicht überall. Die Unternehmervereinigungen in Bremen, Hamburg, Berlin folgten dem zentralen Beschluss nicht, Magdeburg erst nach großem Druck. In kleinen Orten wurde einfach weiter gearbeitet. Dennoch waren 190.000 Arbeiter ausgesperrt. Das drakonische Vorgehen der Kapitalseite sorgte in der Öffentlichkeit, in den Kommunen und auch beim mitbetroffenen Gewerbe für Unmut; die Stimmung schlug um. Immer mehr Menschen sympathisierten sich mit den Ausgesperrten. Spenden wurden gesammelt und Staatsbeamte stellten sich als Vermittler zwischen den beiden Konfliktparteien zur Verfügung. Die Gewerkschafter selbst bewiesen ein hohes Maß an Opferbereitschaft. Nichtausgesperrte Bauarbeiter zahlten einen Teil ihrer Stundenlöhne in die Streikkasse, Gewerkschaftsangestellte verzichteten auf ein halbes Monatsgehalt. 

Die Verhandlungen waren zäh. Erst Ende Juni fiel die Entscheidung: Über eine Tarifdauer von drei Jahren gab es pro Arbeitstunde 5 Pfennig mehr in die Lohntüte und die Arbeitszeit wurde dort, wo bisher länger als zehn Stunden malocht wurde, auf zehn Stunden reduziert, in anderen Orten auf 9 1/2 Stunden. Ein großer Erfolg für die Gewerkschaften. Ein teurer Sieg. Die Gewerkschaften hatten an die von der Aussperrung betroffenen Mitglieder Unterstützungen in Höhe von insgesamt 9,8 Millionen Mark ausgezahlt, eine bis dahin nie gekannte Summe. Doch als am 1. Januar 1911 die Maurer und Hilfsarbeiter sich zum Deutschen Bauarbeiterverband vereinigten, zählte die Organisation über 250.000 Mitglieder. Die Gewerkschaften waren zu einer Macht gediehen, die durch wirtschaftlichen Druck allein nicht mehr zu bezwingen war. 

Text: R. Senenko