20. Juni 2009 
Das Jugenderlebnis
Eine 15-Jährige wurde kurz vor Kriegsende Augenzeugin einer Todeskolonne

Es ist gerade mal eine Woche her, als uns aus dem kanadischen Toronto eine Email erreichte. Die Absenderin schrieb: «Als Kind mit der Schule aus dem Ruhrgebiet evakuiert ins damalige Reichenberg (Sudeten, heute Liberec), war ich kurz vor Ende des 2. Weltkrieges Zeugin eines Todesmarschs von jüdischen Mädchen und Frauen oder vielleicht nur von einem Teil einer solchen Kolonne. Über viele Jahre habe ich dieses grausige und unfassbare Erlebnis mit mir herumgetragen, möchte es aber jetzt für meine Kinder und Enkel aufschreiben
»
Was die 1929 im Ruhrgebiet geborene und heute in Kanada lebende Ellen Bohr dann in einer weiteren Email zu berichten wusste, hat uns sehr beeindruckt. Wir beschlossen, ihrem Bericht eine eigene Seite zu widmen. Für jüngere Leser(innen) sei angemerkt dass Reichenberg (tschechisch Liberec) bis zur Annektierung des Sudetenlandes und der
ČSR 1938/ 1939 als die "Hauptstadt" der deutschsprachigen Gebiete in der Tschechoslowakei galt. Bis zur Befreiung im Mai 1945 gehörte es also zum Sudeten-Gau in Hitlers Drittem Reich. 






Ellen Bohr
Aufnahme 2007.
© Bohr

Ellen Bohrs Erinnerungsbericht

«Ich hatte in meiner ersten Nachricht schon geschrieben dass wir wegen der Bombenangriffe 1943 aus dem Ruhrgebiet evakuiert worden waren. Mein schlimmes Erlebnis hat sich Anfang 45 zugetragen, kurz bevor wir die sowjetische Artillerie in der Ferne zu hören begannen und wir Liberec mit dem letzten Zug (wie es hieß) verlassen mussten. Damals war ich fünfzehn. Sie können sich sicher vorstellen dass nach fast 65 Jahren die Erinnerung an manche Details dieses grauenvollen Erlebnisses leicht verwischt ist. Obwohl im Januar und um diese Zeit in Liberec eigentlich immer Schnee lag, kann ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wie das Wetter zu diesem Zeitpunkt genau war. Kalt war es ganz bestimmt. Wir - ich war damals in Quarta - kamen an jenem Nachmittag aus der Schule, die wir seit zwei Jahren mit den dortigen Kindern teilten. Wir konnten die Straße nicht überqueren, weil sich dort viele Menschen angesammelt hatten. Und dann sahen wir etwas dass es gar nicht geben konnte, und was wie ein schwerer Albtraum mich buchstäblich erstarren ließ: auf einem riesigen Leiterwagen - er scheint mir heute noch viel größer als die, die ich von Bauernhöfen kenne, waren unzählige Bündel gehäuft. Um den Wagen herum schoben und zogen, wie Pferde in die Deichseln gespannt, ausgemergelte, fast unmenschlich aussehende Frauen und Mädchen jeden Alters, in Lumpen gekleidet, dieses überdimensionale Fuhrwerk die hügelige Straße aufwärts. Westwärts führte dieser Schreckenstreck aus der Stadt hinaus. Für mich, die meine Eltern vor allem Bösen zu bewahren versucht hatten, schienen diese Menschen aus einer anderen Welt. Schon viele Jahre vorher, als Kind, hatte ich nur Kontakt mit einer jüdischen Familie: das war unser Metzger - er hieß Leser - mit Frau und deren Tochter Ruth. Aber dass sie Juden waren, wurde mir erst nach dem Krieg klar. Ich erinnere mich nur dass bei einem Einkaufsbesuch im Geschäft meine Mutter die Metzgersfrau fragte, wo denn ihre Tochter sei, sie habe sie so lange nicht gesehen. Frau Leser hatte damals geantwortet dass sie Ruth nach England in die Schule geschickt hätten. Mich machte das so furchtbar böse, weil ich nicht verstehen konnte dass eine Mutter ihr Kind so einfach wegschicken konnte. Ich muss damals 6 oder 7 Jahre gewesen sein. Aber auf meine Frage "warum" bekam ich nur die Antwort: "Das erklären wir dir ein anderes Mal".
Bitte verzeihen Sie diese Abschweifung. Ich wollte damit nur erklären dass ich beim Anblick jener Frauen wirklich keine Ahnung hatte, wer sie waren. 

 

«Mädchen so alt wie ich»

Was mich mehr noch als alles andere schockierte, war die Tatsache dass ich vor mir Mädchen sah, die so alt wie ich sein mussten, die aber einfach nicht in mein bis dahin so behütetes Leben passten. Unwirklicheres hatte ich in meinen schlimmsten Träumen nicht gesehen. Auch Frauen in SS-Uniform hatte ich nie vorher erblickt. Dass sie - es waren zwei - rechts und links auf Pferden neben dem Wagen ritten und schamlos vor allen Passanten, die am Straßenrand standen, auf die Frauen einpeitschten, war nur noch ein anderes entsetzliches Detail.
Meine alte, verehrte Deutschlehrerin, Dr. Ilse Mertens, die kurz vor ihrer Pensionierung stand, schrie neben mir auf: "Das darf nicht wahr sein. Das ist ein Verbrechen!" Ein Mann, der hinter uns beiden stand, tippte ihr auf die Schulter und sagte drohend: "Hüten Sie ihre Zunge. Wissen Sie nicht dass Sie vor dem Büro des SD stehen. Wenn Sie nicht so weiße Haare hätten, würde ich Sie jetzt melden." Der Zug - es handelte sich wirklich nur um einen Wagen - war langsam aus unserm Blickwinkel verschwunden, und alles was danach kam, muss ich verdrängt haben. Ich kann mich weder an ein Gespräch mit meiner Lehrerin erinnern noch daran dass ich irgendjemanden davon erzählt habe, bevor ich im Sommer 45 meine Eltern sah und die entsetzliche Gewissheit bekam, was in Deutschland wirklich passiert ist.
In all den Jahren meines Lebens habe ich an diesem Ereignis getragen und mich dafür schuldig gefühlt dass ich Deutsche bin und habe - manchmal glaube ich fast dass es eine Neurose ist - immer die Nähe von jüdischen Menschen gesucht. Und, was mich sehr glücklich macht, viele habe ich als Freunde gewonnen.
Lieber René Senenko, erst jetzt beim Niederschreiben merke ich, wie schwer es mir immer noch fällt, meine damaligen Gefühle in Worte zu fassen. Mir wäre es so wichtig, wenn ich eine Antwort auf die Frage erhalten könnte, ob und wo diese Unglücklichen das Kriegsende überlebt haben.
Mit besten Grüßen, Ellen Bohr»

Soweit der komplette Wortlaut von Ellen Bohrs Erinnerungen, die uns mit einer Email am 17. Juni erreichten. Ihre Frage, um was für eine Kolonne es sich gehandelt haben mag, die die 15-Jährige zu Gesicht bekam, und ob die Frauen dieses Kommandos möglicherweise überlebt haben, haben wir an den Historiker Dr. Hans Brenner weitergeleitet, der sich mit den Außenlagern des KZ Groß Rosen und den von dort abgehenden Todeskolonnen intensiv befasst hat. Seine Antwort vom 21. Juni ist unten wiedergegeben. 
René Senenko

PS: 
Nachdem
Ellen Bohrs Zeitzeugenbericht auf unserer Webseite veröffentlicht war, übersandte ich einen Ausdruck davon an den Hamburger Freund Georg Schwertner, von dem ich wusste dass er in Neustadt an der Tafelfichte aufgewachsen war, ein Ort, nur unweit von Liberec gelegen. Tschechisch hieß und heißt der Ort Nové Město pod Smrkem und liegt heute an der Grenze zu Polen. 
Gleich am nächsten Tag rief mich Georg an und erzählte mir von seiner Beobachtung, die er als 8-Jähriger gemacht hatte. Die Schilderung von Georg lasse ich hier nachfolgen. Natürlich wissen wir nicht, um was für Häftlinge es sich hier handelte, zumal sie offensichtlich in die entgegengesetzte Richtung liefen als jene, von denen Ellen Bohr schrieb. Vergessen wir nicht dass in den letzten Tagen des Krieges zahlreiche Häftlingstrecks den Machtbereich der Nazis durchquerten, nachdem die Konzentrationslager und ihre vielen Außenlager evakuiert worden sind. 


Die Beobachtung des 8-jährigen Georg

«Im Februar 1945 war ich acht Jahre alt. Die Schulen in Neustadt an der Tafelfichte waren belegt mit verwundeten Soldaten, auch meine Volksschule. Wir hatten Unterricht in verschiedenen Gaststätten. Meine Klasse bestand aus 15 Schülern oder mehr. Ich erinnere mich dass zwar kein Schnee lag, aber dass es kalt war und Matsch lag. Es war um die Mittagszeit herum, und einige von uns waren nach dem Unterricht, der im Gasthaus „Zum Stern“ stattfand, noch geblieben. Das Haus lag am Marktplatz. Wir konnten von Flur und Veranda aus durch das Glasfenster das Treiben auf dem Markt verfolgen. Als ich jetzt den Bericht von Frau Bohr las, war das Bild von damals - das ich nicht loswerden kann - schlagartig wieder da. Von der verglasten Terrasse aus, wo sich außer uns Kindern noch andere Gäste befanden, sahen wir, dass vom Bahnhof her ein Zug Frauen kam. Es waren nicht weniger als 20, wohl eher 40 bis 50. Die Anzahl konnte ich als Kind nicht abschätzen und kann es auch nachträglich nicht mehr. Sie trugen aber gestreifte Sträflingskleider und hatten die Füße mit Lappen und sowas umwickelt. Später erfuhr ich, dass es KZ-Häftlinge waren. Was sich mir tief einprägte war, dass einige von ihnen barfuß durch den kalten Matsch gingen. Damals sagte ich unwillkürlich zu meinen Mitschülern: „Das müssen aber arme Leute sein, wenn die barfuß laufen“. Meine Lehrerin drehte mir mit ihren Händen von hinten den Kopf zur Seite, deckte mir die Augen zu und rief: „Guck doch mal da hin!“ und sie zeigte auf das andere Fenster, das in eine Seitenstraße wies, wo gar nichts los war. Ich habe keine Erinnerung daran, wie die Lehrerin aussah und wie sie hieß. Das kommt, weil durch die in Gasthäuser verlegten Schulstunden die Lehrer sehr rasch wechselten. Zuhause erzählte ich meiner Mutter von dem Vorfall. Sie meinte, die Lehrerin hätte richtig gehandelt, 'sonst wären wir vielleicht da gelandet, wo die KZ-Frauen sind'. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.
Der Zug der Frauen hat sich in Richtung schlesische Grenze bewegt. Sie sind die Schillerstraße hoch gegangen, die ging vom Marktplatz ab. Es waren irgendwelche Aufseher dabei; ich glaub, das waren auch Frauen in schwarzen Uniformen. An die Bewachung kann ich mich aber kaum erinnern, nur dass sie die Häftlinge zusammengehalten haben. Einen Wagen oder Leiterwagen habe ich nicht wahrgenommen. Die Erinnerung an die Häftlingsfrauen jedoch ist so frisch, als wenn es gestern gewesen wäre. Als ich viele Jahre später meine einstigen Schulkameraden an den Häftlingszug erinnerte, wusste niemand mehr etwas davon. Das lag auch daran, weil das, was ich damals auf dem Martplatz sah, sehr rasch ging. Es war für die meisten von uns ein sehr flüchtiges Ereignis.»

(Protokolliert von
René Senenko, 24. Juni 2009)


Auskunft von Dr. Hans Brenner, Zschopau, zur Todeskolonne

21.6.2009
Sehr geehrte Frau Bohr,
durch Herrn Senenko erhielt ich die Bitte, Ihnen auf eine Frage nach Möglichkeit zu antworten. Ich will dem gerne nach meinem Vermögen nachkommen.
Sie schreiben ihm, dass Sie als Kind bei Ende des WK II in oder am Rande von Reichenberg (heute Liberec) einen Todesmarsch von Frauen und Mädchen beobachteten. Nun möchten Sie nach so vielen Jahren wissen, um welche Marschkolonne es sich hierbei gehandelt hat.
Ihre Vermutung, der Marsch müsse von Ost nach West gegangen sein, dürfte richtig sein. Demnach kann es aber keine Kolonne aus Theresienstadt sein, denn das liegt westlich von Liberec. Östlich liegen die vielen Außenlager des in Niederschlesien stationiert gewesenen, aber immer noch sehr wenig bekannten großen KZ Groß-Rosen. Und um zwei Außenlager von Groß-Rosen handelt es sich bei diesem Marsch, bei dem die Frauen und Mädchen einen mit den Utensilien und Waffen der SS-Bewachung hoch bepackten Leiterwagen ziehen und schieben mussten: Gebhardsdorf und Gräflich-Röhrsdorf. Die Insassinnen beider Außenlager begannen am 18. Januar 1945 den Marsch, den sie am Abend in Raspenau (Raspenava), im damals sudetendeutschen Gebiet der Tschechoslowakei mit einer Nachtrast unterbrachen. Der zweite Marschtag führte sie über Reichenberg nach Kratzau (Chrastava), der dritte Tag brachte eine Nachtrast in einem kalten Theater in Zittau, bevor sie am nächsten Tag das Ziel in St. Georgenthal erreichten.
Das beiliegende Bild – ich erhielt es durch René Senenko – soll sich in der Gedenkstätte in Terezín befinden. Der ebenfalls beiliegende Brief der Joan Baumgart bestätigt die Schinderei der Frauen mit dem Leiterwagen, vom Künstler wegen des Winters als Schlitten dargestellt. Mindestens zwei Teilnehmerinnen an diesem Marsch sind nach dem Krieg in Toronto wohnhaft geworden:
Regina Zurkowski geb. Cukier, 26.05.1921 in Radom/Polen, Toronto, 8 Duplex Crescent
Paula Starkmann Geb. Gutman, 12.10.1923 in Ostrowiec/Polen, Toronto, 895 Shaw str.
Eine Frau Bronia Hercberg geb. Worzman, 10.10.1919 in Ostrowiec/P., wurde in DOWNSVIEUR/ KANADA, 22. Edinborough Drive, wohnhaft. Es ist durchaus möglich, dass sich nach ihrer Befreiung noch andere Frauen aus dem ehemaligen Lager Gebhardsdorf entschlossen, sich in Toronto oder einem anderen Ort in Kanada einen Wohnsitz zu suchen. Leider ließen es meine Möglichkeiten nicht zu, danach in Kanada zu suchen.
Diese Todesmärsche mit der Vernichtung vieler Menschen sind das letzte, leider viel zu wenig bekannte Kapitel der Verbrechen, die mit der SHOA an den Juden Europas begangen wurden. Wir Deutschen haben allen Grund, diese Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Mit herzlichem Gruß Hans Brenner


Der Kreis schließt sich
Die Puzzels fügen sich zu einem Gesamtbild, der Kreis schließt sich. Jene Todeskolonne von jüdischen Frauen, die Ellen Bohr in Liberec gesehen hat, ist identisch mit dem Zug von Frauen, der St. Georgenthal/ Jiřetín pod Jedlovou bei Varnsdorf passierte, den Heimatort des Malers Wenzel Salomon. Dieses Schreckensszenario war von Salomon dann zeitnah künstlerisch verarbeitet worden. Es entstand ein ungewöhnliches Gemälde, ein apokalyptisches Bild, das sich heute in der Gedenkstätte Theresienstadt befindet. Mehr dazu auf unserer Webseite über den Maler Wenzel Salomon.
René Senenko