Das Gebäude des Kaspertheaters in Hohnstein, vor dem
der Leichnam des Wehrmachtsdeserteurs lag.
Heutige Ansicht des restaurierten Gebäudes.
Das Kaspertheater ist nach 1945 in ein Kino umgewandelt worden. Im Bericht
der Schülerin S.Gr. ist mit dem Kino demnach das ehemalige Kaspertheater
gemeint.
Foto (c) René Senenko, Mai 2016 |
Im
Nachlass des Geschichtspädagogen Dr. Heinz Senenko fand sich ein mit
Kugelschreiber verfasster Bericht einer Schülerin aus dem Jahr 1980, der
unser Interesse weckt.
Es ist ein unscheinbares Blatt Papier, kariert und gelocht, im Format DIN
A4. Die linke obere Ecke ist abgerissen. Der Bericht ist kurz; er nimmt
nur etwas mehr als die halbe Seite ein. Die Verfasserin gehörte damals
offensichtlich der Sebnitzer Arbeitsgemeinschaft "Junge
Historiker" an und hat in der Burgstadt Hohnstein Zeitzeugen oder mit
der Ortsgeschichte befasste Mitbürger befragt. Solche Interviews waren
die eigentliche Domäne der AG. Da das Kriegsende erst 35 Jahre
zurücklag, sind die überlieferten Interviews der AG Junge Historiker aus
den 80er Jahren des 20. Jhs. heute eine wertvolle Quelle für die
historische und geschichtspädagogische Forschung. Die Namen der
Informanten und Zeitzeugen für diesen Bericht sind nicht erwähnt. Das
Blatt ist undatiert, stammt aber aus einer Arbeitsmappe von Dr. Senenko
des Jahres 19801.
Zur
Vollansicht des Berichts bitte den Faksimile-Ausriss anklicken.
Nachfolgend die Abschrift des vollständigen Wortlauts (Orthografie wie im
Original):
In
den letzten Apriltagen des Jahres 1945 kam es in Hohnstein zu einem
aufsehenerregenden Zwischenfall. Ein junger Soldat der deutschen Wehrmacht
wurde wegen Fahnenflucht von den faschistischen Militär erschossen. Der
Leichnahm wurde zur Abschreckung für die übrige Bevölkerung am Eingang
zum Kino hingelegt. Man hängte dem jungen Soldaten ein Schild um den
Hals, worauf geschrieben war: "Ich bin ein Verräter, wer mich
bedauert, dem ergeht es ebenso!"
Trotz dieser Drohung, legte die Zahnärztin Frau Weisheit einen
Blumenstrauß dem Toten in die Hände. Viele Hohnsteiner erwiesen diesen
Helden die letzte Ehre, indem sie still an ihm vorbeigingen.
Über die mutige Zahnärztin Gertrud Weisheit (1899-1978) finden wir
nähere biografische Hinweise, Fotos und Episoden in der Publikation von
Reinhart Hupfer: Johannes Weisheit und andere Hohnsteiner Geschichten;
Wölpern o.J. (um 2007), dort vor allem auf den Seiten 45ff, 65 und
83.
In anderen Unterlagen des Nachlasses von Dr. Heinz Senenko fand ich eine im
Jahr 2001 angefertigte Abschrift eines Schülerprotokolls aus dem Jahr 1979.
Das Originalprotokoll konnte ich nicht ausfindig machen. Darin sind weitere
wichtige Details erwähnt, nämlich den Ort der Hinrichtung und die
Überführung des Leichnams nach dem Krieg in seine Heimat. Auch weicht die
Aufschrift des Schildes, das dem Toten umgehängt war, von dem obigen
Protokoll ab (mündliche Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen an Vorgänge, die
Jahrzehnte zurückliegen, stimmen nur selten im Detail überein). Hier der
Ausriss aus der Protokollabschrift2:
Klartext des 1979 von Birgit B. notierten Berichts:
Am 7. oder 8. Mai wurde ein deutsch. Soldat
erschossen. Hinten an der Badbrücke. An der Friedhofstür hingelegt.
Später nach Westfalen heimgebracht. Auf dem Schild an ihm stand:
"Wer den Tod in Ehren fürchtet,
stirbt den Tod der Schande".
Kein Ort der Erinnerung an den Desderteur
In Hohnstein erinnert leider nichts mehr an den grausamen Vorfall.
Anlässlich des 50. Jahrestags der Befreiung vom Faschismus im Jahr 1995
schrieb der Schriftsteller und Schauspieler Peter Biele ein paar
jugendliche Erinnerungen an den toten Soldaten nieder. Als 13jähriger habe er
den Soldaten am 7. Mai 1945 an der
Friedhofsmauer liegen sehen3. Im 2003 in Pirna
erschienenem Buch "Unsere Heimat unterm Hakenkreuz" schreibt Mitautor Günter
Kosmol4:
Im April 1945 lag in der Burg
Hohnstein ein Landes-Schützen-Bataillon. Der Kommandant war Oberst Kraatz.
Dieser ließ Ende April einen aufgegriffenen 20-jährigen Fahnenflüchtigen an
der Friedhofsmauer standrechtlich erschießen und die Leiche abschreckend zur
Schau stellen. Welch großen Mut bewies damals die Hohnsteiner Zahnärztin
Gertrud Weisheit! Sie wagte es, der Leiche Blumen auf die Brust zu legen.
Der Ortsgruppenleiter der NSDAP Ernst drohte daraufhin: „Das Schwein,
welches das getan hat, lasse ich auch erschießen!" Aber dazu kam es nicht
mehr. Kraatz rückte am nächsten Tag mit den Soldaten über die
Tschechoslowakei nach Bayern ab, denn er fühlte sich nicht mehr sicher.
In vielen Orten Deutschlands wurden nach Kriegsende schlichte
Gedenktafeln am Ort solcher Hinrichtungen angebracht, in Hohnstein wohl
nicht. Später sind die Tafeln verschwunden oder durch dauerhafte Formen der Erinnerung ersetzt worden.
Deshalb noch ein Wort zu den erhaltengebliebenen Gedenkorten für solche
hingerichteten Wehrmachtssoldaten. Unsere Initiative hat sich der Mühe
unterzogen und eine Liste
aller zu DDR-Zeiten errichteten Gedenkorte für hingerichtete
Wehrmachtssoldaten
zusammengestellt und im Internet veröffentlicht. Wir haben hierbei nur
jene Stätten berücksichtigt, deren ursprüngliche Widmung unverändert
erhalten blieb. Denn viele dieser Erinnerungsorte wurden nach Gründung
der NVA allgemein in "Opfer des Faschismus" umgewidmet, sodass
ihr originärer Zweck nicht mehr erkennbar war. Da diese Umwidmung zu
DDR-Zeiten nicht
allerorten passierte, gibt es noch heute viele solche Stätten der
Erinnerung an Opfer der NS-Militärjustiz, die als solche erkennbar
geblieben sind, sofern sie nicht - wie im Brandenburgischen Peitz
geschehen - nach 1990 umgewidmet worden sind.
In den meisten Fällen handelte es sich um Gedenkorte für kriegsmüde
Soldaten, die in den letzten Kriegswochen ihre Waffen abgelegt hatten (was
der "Fahnenflucht" gleichkam) oder auf dem Heimweg waren, dann
von der Feldgendarmerie ("Kettenhunde", oft SS-Leute)
aufgegriffen, in Kurzverfahren zum Tode verurteilt und anschließend
erschossen oder auf
einem belebten Platz des nächstgelegen Ortes erhängt worden sind. Zur
Abschreckung stellte man ihre Leichname einige Tage vor Ort zur Schau. In fast allen Fällen
bekamen sie ein Schild umgehängt, auf denen vor Nachahmung von
Fahnenflucht gewarnt wurde. In Westdeutschland blieben diese
Erinnerungsorte nicht erhalten, weil mit dem Aufbau der Bundeswehr in den
1950er Jahren (deren Offiziere zu 99% schon in der Wehrmacht gedient hatten)
ja auch der Nazigeist in die neuen Streitkräfte Einzug hielt.
Wehrmachtsdeserteure und verurteilte "Wehrkraftzersetzer"
standen
im Westen auch nach 1945 im Ruf von Vaterlandsverrätern und Feiglingen. Auch wenn
die überlebenden Wehrmachtsdeserteure und andere überlebende Opfer der
NS-Militärjustiz in der DDR keinen Anspruch auf eine VVN-Rente hatten, so
galten zumindest die hingerichteten Soldaten als "Opfer des
faschistischen Krieges".
René
Senenko
Fußnoten:
1 Bundesarchiv,
Signatur N 2730 Senenko, Heinz, Karton 11, Mappe "Hohnstein" 2
ebenda 3 Peter Biele: Zuflucht in Hohnstein. In:
Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz Heft 2, 1995, S.
18-22, ill. 4 Günter Kosmol: Frühjahr 1945 - Letzte
Kriegs- und erste Friedenstage. In: Heimat unterm Hakenkreuz; Pirna 2003,
Kapitel 11, Abschnitt "Widerstand trotz wachsendem Terror".
Als Quelle nennt Kosmol den PDS-Bestand
Nr. 0158 im Stadtarchiv Pirna.
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