22. März 2016, aktualisiert am 17. August 2016
Bericht über einen hingerichteten jungen Wehrmachtssoldaten, April 1945, Hohnstein (Sächsische Schweiz)
   



Das Gebäude des Kaspertheaters in Hohnstein, vor dem der Leichnam des Wehrmachtsdeserteurs lag.
Heutige Ansicht des restaurierten Gebäudes. 

Das Kaspertheater ist nach 1945 in ein Kino umgewandelt worden. Im Bericht der Schülerin S.Gr. ist mit dem Kino demnach das ehemalige Kaspertheater gemeint.

Foto (c) René Senenko, Mai 2016
Im Nachlass des Geschichtspädagogen Dr. Heinz Senenko fand sich ein mit Kugelschreiber verfasster Bericht einer Schülerin aus dem Jahr 1980, der unser Interesse weckt. Es ist ein unscheinbares Blatt Papier, kariert und gelocht, im Format DIN A4. Die linke obere Ecke ist abgerissen. Der Bericht ist kurz; er nimmt nur etwas mehr als die halbe Seite ein. Die Verfasserin gehörte damals offensichtlich der Sebnitzer Arbeitsgemeinschaft "Junge Historiker" an und hat in der Burgstadt Hohnstein Zeitzeugen oder mit der Ortsgeschichte befasste Mitbürger befragt. Solche Interviews waren die eigentliche Domäne der AG. Da das Kriegsende erst 35 Jahre zurücklag, sind die überlieferten Interviews der AG Junge Historiker aus den 80er Jahren des 20. Jhs. heute eine wertvolle Quelle für die historische und geschichtspädagogische Forschung. Die Namen der Informanten und Zeitzeugen für diesen Bericht sind nicht erwähnt. Das Blatt ist undatiert, stammt aber aus einer Arbeitsmappe von Dr. Senenko des Jahres 19801.

Zur Vollansicht des Berichts bitte den Faksimile-Ausriss anklicken. Nachfolgend die Abschrift des vollständigen Wortlauts (Orthografie wie im Original):

In den letzten Apriltagen des Jahres 1945 kam es in Hohnstein zu einem aufsehenerregenden Zwischenfall. Ein junger Soldat der deutschen Wehrmacht wurde wegen Fahnenflucht von den faschistischen Militär erschossen. Der Leichnahm wurde zur Abschreckung für die übrige Bevölkerung am Eingang zum Kino hingelegt. Man hängte dem jungen Soldaten ein Schild um den Hals, worauf geschrieben war: "Ich bin ein Verräter, wer mich bedauert, dem ergeht es ebenso!" 
Trotz dieser Drohung, legte die Zahnärztin Frau Weisheit einen Blumenstrauß dem Toten in die Hände. Viele Hohnsteiner erwiesen diesen Helden die letzte Ehre, indem sie still an ihm vorbeigingen.



Über die mutige Zahnärztin Gertrud Weisheit (1899-1978) finden wir nähere biografische Hinweise, Fotos und Episoden in der Publikation von Reinhart Hupfer: Johannes Weisheit und andere Hohnsteiner Geschichten; Wölpern o.J. (um 2007), dort vor allem auf den Seiten 45ff, 65 und 83. 

In anderen Unterlagen des Nachlasses von Dr. Heinz Senenko fand ich eine im Jahr 2001 angefertigte Abschrift eines Schülerprotokolls aus dem Jahr 1979. Das Originalprotokoll konnte ich nicht ausfindig machen. Darin sind weitere wichtige Details erwähnt, nämlich den Ort der Hinrichtung und die Überführung des Leichnams nach dem Krieg in seine Heimat. Auch weicht die Aufschrift des Schildes, das dem Toten umgehängt war, von dem obigen Protokoll ab (mündliche Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen an Vorgänge, die Jahrzehnte zurückliegen, stimmen nur selten im Detail überein). Hier der Ausriss aus der Protokollabschrift2:

Klartext des 1979 von Birgit B. notierten Berichts:
Am 7. oder 8. Mai wurde ein deutsch. Soldat erschossen. Hinten an der Badbrücke.
An der Friedhofstür hingelegt. Später nach Westfalen heimgebracht. Auf dem Schild an ihm stand:

"Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt den Tod der Schande".
 



Kein Ort der Erinnerung an den Desderteur


In Hohnstein erinnert leider nichts mehr an den grausamen Vorfall. Anlässlich des 50. Jahrestags der Befreiung vom Faschismus im Jahr 1995 schrieb der Schriftsteller und Schauspieler Peter Biele ein paar jugendliche Erinnerungen an den toten Soldaten nieder. Als 13jähriger habe er den Soldaten am 7. Mai 1945 an der Friedhofsmauer liegen sehen3. Im 2003 in Pirna erschienenem Buch "Unsere Heimat unterm Hakenkreuz" schreibt Mitautor Günter Kosmol4:

Im April 1945 lag in der Burg Hohnstein ein Landes-Schützen-Bataillon. Der Kommandant war Oberst Kraatz. Dieser ließ Ende April einen aufgegriffenen 20-jährigen Fahnenflüchtigen an der Friedhofsmauer standrechtlich erschießen und die Leiche abschreckend zur Schau stellen. Welch großen Mut bewies damals die Hohnsteiner Zahnärztin Gertrud Weisheit! Sie wagte es, der Leiche Blumen auf die Brust zu legen. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP Ernst drohte daraufhin: „Das Schwein, welches das getan hat, lasse ich auch erschießen!" Aber dazu kam es nicht mehr. Kraatz rückte am nächsten Tag mit den Soldaten über die Tschechoslowakei nach Bayern ab, denn er fühlte sich nicht mehr sicher.


In vielen Orten Deutschlands wurden nach Kriegsende schlichte Gedenktafeln am Ort solcher Hinrichtungen angebracht, in Hohnstein wohl nicht. Später sind die Tafeln verschwunden oder durch dauerhafte Formen der Erinnerung ersetzt worden. Deshalb noch ein Wort zu den erhaltengebliebenen Gedenkorten für solche hingerichteten Wehrmachtssoldaten. Unsere Initiative hat sich der Mühe unterzogen und eine
Liste aller zu DDR-Zeiten errichteten Gedenkorte für hingerichtete Wehrmachtssoldaten zusammengestellt und im Internet veröffentlicht. Wir haben hierbei nur jene Stätten berücksichtigt, deren ursprüngliche Widmung unverändert erhalten blieb. Denn viele dieser Erinnerungsorte wurden nach Gründung der NVA allgemein in "Opfer des Faschismus" umgewidmet, sodass ihr originärer Zweck nicht mehr erkennbar war. Da diese Umwidmung zu DDR-Zeiten nicht allerorten passierte, gibt es noch heute viele solche Stätten der Erinnerung an Opfer der NS-Militärjustiz, die als solche erkennbar geblieben sind, sofern sie nicht - wie im Brandenburgischen Peitz geschehen - nach 1990 umgewidmet worden sind. 
In den meisten Fällen handelte es sich um Gedenkorte für kriegsmüde Soldaten, die in den letzten Kriegswochen ihre Waffen abgelegt hatten (was der "Fahnenflucht" gleichkam) oder auf dem Heimweg waren, dann von der Feldgendarmerie ("Kettenhunde", oft SS-Leute) aufgegriffen, in Kurzverfahren zum Tode verurteilt und anschließend erschossen oder auf einem belebten Platz des nächstgelegen Ortes erhängt worden sind. Zur Abschreckung stellte man ihre Leichname einige Tage vor Ort zur Schau. In fast allen Fällen bekamen sie ein Schild umgehängt, auf denen vor Nachahmung von Fahnenflucht gewarnt wurde. In Westdeutschland blieben diese Erinnerungsorte nicht erhalten, weil mit dem Aufbau der Bundeswehr in den 1950er Jahren (deren Offiziere zu 99% schon in der Wehrmacht gedient hatten) ja auch der Nazigeist in die neuen Streitkräfte Einzug hielt. Wehrmachtsdeserteure und verurteilte "Wehrkraftzersetzer" standen im Westen auch nach 1945 im Ruf von Vaterlandsverrätern und Feiglingen. Auch wenn die überlebenden Wehrmachtsdeserteure und andere überlebende Opfer der NS-Militärjustiz in der DDR keinen Anspruch auf eine VVN-Rente hatten, so galten zumindest die hingerichteten Soldaten als "Opfer des faschistischen Krieges". 

René Senenko

Fußnoten:
1    Bundesarchiv, Signatur N 2730 Senenko, Heinz, Karton 11, Mappe "Hohnstein"
2    ebenda
3    Peter Biele: Zuflucht in Hohnstein. In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz Heft 2, 1995, S. 18-22, ill.
4    Günter Kosmol: Frühjahr 1945 - Letzte Kriegs- und erste Friedenstage. In: Heimat unterm Hakenkreuz; Pirna 2003, Kapitel 11, Abschnitt "Widerstand trotz wachsendem Terror".  Als Quelle nennt Kosmol den PDS-Bestand Nr. 0158 im Stadtarchiv Pirna.