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Projekt
Weltgeschichte
auf Ansichtskarten?
Falls
Sie auf unseren Seiten eine illustrierte Weltgeschichte der
Arbeiterbewegung oder der sozialen Bewegungen und Kämpfe erwarten, werden
Sie enttäuscht sein. Denn zu Recht würden Sie viele
historische Ereignisse vermissen. Kehren wir die Erwartung
einmal um: Unsere historischen Postkarten wollen den Chroniken &
Geschichtsbüchern einige historische Puzzles hinzufügen, über die sie
bislang nichts oder nur wenig zu berichten wussten. So manche
Postkarte unseres Projekts war dereinst einem Ereignis gewidmet,
das seinerzeit vielleicht in aller Munde war, aber später aus
dem öffentlichen Bewusstsein gewichen ist. Daneben finden Sie bei uns zahlreiche Karten, deren historische Hintergründe allgemein
bekannt sind (z.B. Karten zum Reichstagsbrandprozess oder
zum Spanienkrieg 1936-1939). Diese Mischung hat den Vorzug, dass Sie Unbekanntes
im vertrauten Rahmen vorfinden. Da unsere Präsentation
synchronoptisch aufgebaut ist, ruft die Gleichzeitigkeit der
dargestellten Ereignisse mitunter eine verblüffende Wirkung hervor. Die
"Nebenschauplätze" der Weltgeschichte werden plötzlich
interessant; durch sie erkennen wir weit mehr Zusammenhänge um die
"Hauptschauplätze" als ohne sie. Dieser Effekt ist gewollt.
Allerdings sollte man bei dieser Optik nicht vergessen, dass die
historische Gewichtung der Geschehnisse, die sich hier auf
Postkarten abbilden, ganz verschieden ist. So finden wir im August
1933 zwei Postkarten nebeneinander vor, die das anschaulich machen
sollen: Eine der beiden Karten widmet sich dem Streik französischer
Binnenschiffer im August 1933, die andere zeigt eine der bekannten
Heartfieldschen Fotomontagen. Auf den
ersten Blick haben beide Ereignisse nichts miteinander gemein. Der
Schifferstreik fand zu einer Zeit statt, als die
Weltwirtschaftskrise auch Frankreich erfasst hatte - wenn auch weit später als andere Länder. Dieser Streik war bald vergessen. Wir
wissen nicht einmal, ob er er erfolgreich ausgegangen ist. Die
Postkarte mit der Fotomontage von John Heartfield hingegen lenkt
unsere Aufmerksamkeit auf die mörderische Praxis in
Nazideutschland, über die weltweit in den Organen der
Arbeiterbewegung und in bürgerlich-liberalen Medien berichtet
wurde. Dieser Widerhall führte zu vielen Aktionen des
Protests gegen die Hitlerdiktatur und der Solidarität mit den
Opfern des Faschismus. Und Heartfields Fotomontagen halfen dabei. Davon zeugen mehrere Postkarten, die Sie in
unserer Postkartenchronik ab 1933 vorfinden.
Unser seit 2014 bestehendes Projekt hat sich die Aufgabe gestellt, eine
repräsentative Auswahl von Postkarten aus der
Zwischenkriegsära 1919 bis 1939 aus allen Regionen der Erde zu
versammeln, die gegen Kolonialismus und Kriegsgefahr, gegen Kapital und Faschismus
entworfen, produziert und zuweilen auch versandt worden sind. Einige wenige Karten gehen über diesen
Zeitrahmen hinaus, bleiben aber thematisch ganz bei uns. Unberücksichtigt bleiben die zahlreichen
Kriegspropagandakarten, die gegen die faschistischen Axenmächte
Deutschland, Italien und Japan im Umlauf waren. Sie sind ein ganz
eigenes Kapitel der Postkartengeschichte, über die bereits
zahlreiche Veröffentlichungen vorliegen.
Die politische Postkarte, ein wenig bekanntes Terrain.
Schaut
man sich illustrierte Zeitschriftenartikel und Bücher zur
jüngeren Geschichte an, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in
den westlichen Ländern bis Ende der 1980er-Jahre erschienen sind, so kann man sich des
Eindrucks nicht erwehren, dass die Herausgeber Motive von
Naziplakaten und -postkarten mit geradezu höchstem
ästhetischen Genuss zum Abdruck brachten. "Hitler
sells", sagten sich die Verleger. Gepaart mit der
herrschenden Geschichtspropaganda zeigte das eine lang
anhaltende Wirkung. Wer sich auf
Postkartenbörsen (auch online) und Flohmärkten umschaut, erschrickt immer
wieder über die Schwemme an Nazipostkarten, die da - oft
unverhüllt - über die Tische und Onlineplattformen schwappt.
Beklemmend, dass viele Verkäufer so tun, als ob es hier nur ums
Geschäft ginge. Vor der Euro-Einführung hörte ich aus dem Mund
eines Postkartenhändlers in einem Vorort von Hamburg, dass die US-amerikanischen
Kunden für eine Nazikarte den Preis in Dollar zahlten, was sie zum
DM-Nennwert hierzulande kostete. Der Gewinn war erheblich. Fragten wir nach Karten der Arbeiterbewegung, erfuhren wir vom
Händler, dass so etwas sehr selten sei. In der Tat, viele der
hier wiedergegebenen rund 720 Motive von Postkarten
(Stand April 2024) sind
rar und wenig bekannt. Die Geschichtsschreibung und
Kunstgeschichte maß schon immer dem politischen Plakat ein größeres
Interesse bei. Das liegt an der unleugbaren Anziehungskraft und
Wirksamkeit von Plakaten. In Museen ist das nicht anders. Plakate eignen sich für
Ausstellungen und Veranstaltungen weit besser zur
Veranschaulichung eines Themas als kleinformatige Dokumente.
Auch sind Plakate häufig von bekannten Künstlern entworfen
worden, sodass sie seit langem ein Genre der Kunst- und
Mediengeschichte bilden.
Spezifik der politischen Ansichtskarte.
So ist die Ansichtskarte zwar nie ganz
aus dem Schatten des "großen Bruders" (Plakat)
herausgetreten, wusste sich aber wegen ihres spezifischen
Gebrauchswerts als Spendenkarte, Andenken, Sammelobjekt und
Mitteilungsmedium eigenständig zu entwickeln. Ab der späten
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gedieh sie global zu einem
beliebten Bild- und Mitteilungsmedium. Fotostudios, Verlage und
Händler spezialisierten sich auf ihre Herstellung und
Verbreitung. Auch privat erstellte Fotopostkarten wurden
allmählich erschwinglich und kamen nach dem Ersten Weltkrieg immer
mehr in Mode und Gebrauch. Die Arbeiterbewegung entdeckte die Postkarte als
preiswertes Propagandamedium, zunächst in den am stärksten
industrialisierten Ländern, später weltweit. Bekannte
Beispiele in Europa sind die seit Ausgang des 19. Jahrhunderts
von den Organisationen der Arbeiterbewegung herausgegebenen
Mai-Postkarten sowie die zahlreichen Porträtpostkarten für
ihre Führerpersönlichkeiten und Abgeordneten. Wenn ich von
einer "weltweiten Verbreitung" spreche, hat das seinen Grund. Zwar
war der Bildungsgrad der Rezipienten und die Strukturen der Postbeförderung in
ländlichen Gebieten, in vielen Kolonien und in den nichtindustriellen Ländern gering
ausgeprägt, doch war dies kein Hindernis, diese Karten zu
erwerben und aufzubewahren. Für diese Art der Nutzung liegen
ausreichend Belege
vor, z.B. aus Indien, China, Kolumbien usw. Auch haben wir
Karten von Händlern und Fotostudios berücksichtigt, die eher die
Sicht der Herrschenden zeigen, aber damit indirekt auf die
Ausbeutung und die Kämpfe
der Unterdrückten verweisen.
Wir hoffen, auch
die vielen politischen Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung
und die enorme Vielfalt, die ihre Organisationen im sozialem und kulturellem
Bereich hervorgebracht haben, mit unserer Auswahl dokumentieren zu können. So bereichern
viele Exemplare zur Arbeiterkultur
(Esperanto, Sport, Musik, Jugendweihe, Schach usw.) unsere
Zusammenstellung. Die Nachforschungen im Abstand vieler
Jahrzehnte sind in den Zeiten des Internets zwar technisch
komfortabler geworden, bleiben aber noch immer schwierig, weil in
vielen Ländern Archive, Museen und Bibliotheken historische
Postkarten nicht als sammelwürdig erachten. Hinzu kommt der
Umstand, dass die Bildsammlungen vieler Bildungsstätten nur der
"Abbildung" Beachtung schenken, nicht jedoch dem Medium
selbst, auf dem
das Bild überliefert ist. Wer unvoreingenommen unsere Präsentation und unsere
Ausstellungen in Augenschein nimmt, wird vielleicht erkennen, dass
die politische Postkarte eine ganz eigene Bilderwelt
hervorgebracht hat, die viele Entdeckungen und
Wiederentdeckungen bereithält. Diesen Schatz zu heben, ist die
Aufgabe von Sammlern, Archivaren, (Kunst)Historikern und
Dachboden-Archäologen.
Einige
Worte zum Geschichtsbild.
Lesen wir heute Beiträge aus der Feder
ernstzunehmender Historikerinnen und Historiker, fällt uns auf,
dass sich in der menschlichen Geschichte offenbar alles um
Demokratie und demokratische Werte zu drehen schien, die es
damals wie heute gegen extremistische Kräfte von links und
rechts (also gegen den Totalitarismus) zu verteidigen galt und
gelte. Man tut so, als ob Demokratie eine Gesellschaftsordnung
sei. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir aber, dass es eine
Kraft der sonnigen Mitte, welche die Demokratie allseitig
verteidigt hätte, so nie gegeben hat. Sondern wir erblicken in
den sich entwickelnden gesellschaftlichen Verhältnissen Akteure
und Gruppen, die in der gegebenen Kräfterelation ihre Interessen
verteidigen und sich in Bezug auf die Demokratisierung der
Politik oder gar auf die Überwindung der zerstörerischen
Surplus-Macherei als hemmende
oder treibende Kraft erweisen. In diesem Prozess bildeten sich die Spielregeln der
bürgerlichen Demokratie heraus. Ebendiese Demokratie wurde aber von der
Klasse, die sie im Zuge der eigenen Emanzipation einst erkämpft hat, immer wieder verraten, sobald
die Proletarier sie eingefordert haben. Gerade jene Kräfte, die
vorgaben, in Deutschland zwischen 1919 und 1933 die Republik
errungen und
die Demokratie verteidigt zu haben, versagten vollends. Sie haben
nicht etwa versagt, weil sie "Versager" gewesen wären, sondern
weil sie ihre soziale Stellung, die sie nicht aufzugeben bereit
waren, dazu machte. Wer sich einmal der
Vorstellung verschrieben hat, dass "Demokratie gegen
Totalitarismus" das gültige Leitbild sein muss, welches unsere Gesellschaft bewegt
und erstrebt, der wird im Kapitalismus, in Aufrüstung und
Kriegen, in Bürgerkriegen und Flüchtlingswellen, in der
ungehemmten Ausbeutung unserer Naturressourcen und in der
Profitgier nur unschöne Begleiterscheinungen unserer Zeit
vermuten. Das, was unsere Welt wirklich bewegt, gerät dabei aus
dem Blick. Wenn Demokratie hieße, die Interessen der Mehrheit zu
vertreten, dann gäbe es kein Bürgergeld, keine unterbezahlten
Pflegekräfte, keine Miethaie, keine Aufrüstung, keine
Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, keine
Coronagewinner und demzufolge auch kein Ausspielen der
Einheimischen gegen die Migranten. Schauen wir den Regierenden und den
Vorstandschefs nicht auf den Mund,
sondern auf die Finger.
Digitalisate
und Originale gesucht.
Gesucht werden
aussagekräftige Postkarten oder gute Scans derselben, insbesondere
aus den hier bislang unterrepräsentierten Ländern und Regionen. Propagandakarten des Zweiten Weltkrieges sowie nach 1945
gedruckte Postkarten
finden in unserem Projekt keine Berücksichtigung, auch dann
nicht, wenn sie nachträglich Motive der Zwischenkriegsjahre 1919-1939
wiedergeben. Für weiterführende Ergänzungen und Korrekturhinweise
zu unseren Postkarten-Kommentaren sind wir dankbar.
Viel
Erkenntnisgewinn wünscht Ihnen bei der Sichtung der Seiten René Senenko
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